Mentaltraining Klettern

Mentaltraining Klettern
Sportpsychologie: Besser bouldern und klettern

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Zuletzt aktualisiert am 03.02.2017
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Foto: Bernardo Gimenez

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"Eine psychologische Blockade" nannte Chris Sharma sein Problem, das er mit First Round First Minute (9b) in Margalef hatte. Zig Versuche musste der Kletterprofi investieren, unzählige Male stürzte er noch ganz am Ende ins Seil, nachdem 99 Prozent der Schwierigkeiten der Route bereits hinter ihm lagen. Es war wie verhext. Er wusste, dass er die Route klettern kann – und doch wollte es nicht klappen. Erst eine Pause von mehreren Monaten und der damit verbundene gedankliche Abstand erlaubten ihm schließlich einen unbeschwerten Versuch ohne Erwartungen – und zack, die Erstbegehung gelang.

Den Einfluss der Psyche auf die Leistung kennen die meisten Kletterer. Der Unterschied zwischen einem guten Tag, an dem wir ausgeschlafen und motiviert antreten, und einem schlechten Tag, an dem wir keine Lust haben und nichts klappen will, ist nicht zu leugnen. Doch wie können wir Einfluss darauf nehmen, ob ein Tag ein guter oder ein schlechter wird?

Versagensangst und Erfolgsdruck sind nur einige der Einflussgrößen, mit denen wir Kletterer konfrontiert sind. Sturzangst und manchmal auch Motivationsschwierigkeiten gehören ebenfalls dazu. Auch "Verkopfen", also krampfhaftes Denken oder Nervosität während des Kletterns, ist problematisch. Besonders im Wettkampf muss die Psyche einiges wegstecken können, was die Konzentration stören kann.

Aber ob das wilde Anfeuern oder das Scheinwerferlicht einen Kletterer eher stört oder eher stärkt, liegt allein in seinem Kopf und an seinen mentalen und kognitiven Fähigkeiten wie zum Beispiel der Konzentrationsfähigkeit. Diese können die letzten paar Prozent der Leistungsreserven herauskitzeln.

Podcast: Sportpsychologin Madeleine Eppensteiner im Gespräch mit Charlie Boscoe

So geht's: Mentaltraining fürs Bouldern und Klettern

Beim Mentaltraining übt man zu erkennen, welches äußerliche und welches innere Faktoren sind und welche davon wir beeinflussen können. Auch im alltäglichen Freizeitspaß in der Kletterhalle können wir 
– egal ob Topniveau oder Hobbykletterer – vom Mentaltraining und seinen Techniken profitieren (Tipps dazu oben).

Spitzenleistung – und nichts anderes ist das Klettern an der persönlichen Leistungsgrenze – lässt sich, wie das Beispiel von Chris Sharmas Blockade bei First Round First Minute zeigt, nicht programmieren. Sie "passiert", wenn die inneren Bedingungen stimmen.

Mentales Training hilft, Körper und Geist dazu zu bringen, bis ins tiefste Un(ter)-Bewusstsein an einem Strang zu ziehen, um das bestmöglichste Ergebnis zu produzieren. Auch das Steuern der eigenen Befindlichkeit gehört dazu: Kann ich mich auch unter Anspannung locker machen? Kann ich meine Angriffslust steigern, ohne unkontrolliert zu werden? Lasse ich mich ablenken oder behalte ich den Fokus?

In den richtigen Modus kommen

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Bernardo Gimenez

Topkletterer in Wettkampf und Fels sind üblicherweise auch mental fit. Manche, weil sie Naturtalente sind, andere, weil sie über Jahre geübt haben, sich mit Kletterproblemen auseinanderzusetzen. Im Wettkampf beispielsweise entscheidet die individuelle Nervenstärke eines Athleten darüber, ob ein misslungener Versuch ihn aus dem Konzept bringt oder ob er beim nächsten Durchgang unvermindert motiviert angegreift.

Wenn ein Sportler in der für seine Spitzenleistung erforderlichen optimalen "Stimmung" ist, kann er erfolgreich seine Leistung abrufen und lässt sich auch bei Ablenkungen nicht aus der Ruhe bringen. Die richtige Betriebstemperatur, im Fachjargon "Aktivierungsniveau" genannt, ist also elementar für Spitzenleistungen.

Climbing Coach Tom Herbert erklärt Abläufe im Nervensystem im Bezug aufs Klettern (englisch)

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"Ist die Erregung zu niedrig, sind Leistungskomponenten nicht abrufbar; ist sie zu hoch, ist aufgrund damit einhergehender muskulären Verspannung und Verkrampfung keine gute Leistung zu erwarten", erklären Jürgen Beckmann und Anne-Marie Elbe in ihrem Buch "Praxis der Sportpsychologie" (siehe Literaturtipps ganz unten). Gerade beim Klettern ist diese Art von innerem Feintuning und die Fähigkeit zum schnellen Wechsel zwischen den Aktivierungsniveaus elementar: Brutale Dynos erfordern eine anderes Maß an Angriffslust als eine hochtechnische Platte, auf der besonnene Millimeter-Arbeit nötig ist. Ob Entspannung oder Anregung eher weiterhilft, um auf die optimale Betriebstemperatur zu kommen, ist laut Mentaltraining-Pionier Hans Eberspächer sportartenabhängig und variiert individuell stark.

Beim Mentaltraining geht es hauptsächlich um das Erreichen dieser "individuellen Zone optimalen Funktionierens", wie sie der finnische Sportpsychologe Yuri Hanin nennt. Dabei ist erlaubt, was hilft: Entspannungsübungen, aktivierende Musik, oder auch die gezielte Anhebung der Atemfrequenz. Damit Sportler besser die perfekte Leistungsstimmung erreichen, zielen Mentaltrainer besonders auf die Verbesserung der Fähigkeit zur "Regulation von Aufmerksamkeit und Aktivation", also der Fähigkeit, in den richtigen Modus zu kommen. Als eine wichtige und geeignete Technik, um die innere Haltung zu mobilisieren, gilt das Selbstgespräch.

Der Innere Dialog

KL Buddha - Konzentration
© Memephoto / Pixelio

Weil das Sprachzentrum unter Stress (also beim Wettkampf oder sonstwo an der Leistungsgrenze) aus der evolutionären Entwicklung heraus runtergefahren ist, sind kurze, klare Befehle sinnvoll. Selbstanweisungen wie "Jetzt Vollgas" oder "Dranbleiben, atmen!" helfen, den inneren Dialog zu kontrollieren und sich selbst in die richtige Stimmung zu bringen. Denn nur wenn die Stimmung im Kopf stimmt, ist Konzentra­tion möglich und damit das Abrufen der Leistung. So bestätigt Eberspächer: "Wer aufgibt, gibt zuerst im Kopf auf."

Dass negative Gedanken – "Ich schaff das nicht! Gleich rutsche ich vom Griff!" – der Leistung abträglich sind, überrascht nicht. Es gilt also, den inneren Dialog positiv und fokussiert zu halten. Das beginnt mit unserer grundsätzlichen Herangehensweise. Manche mental schwachen Leistungssportler und vor allem Freizeitkletterer erwarten gewohnheitsmäßig den Misserfolg: "Die Route ist viel zu schwer, die schaffe ich eh nicht im Durchstieg". Damit Erfolg eintritt, müssen wir ihm gegenüber aber aufgeschlossen sein. Wenn es an die Leistungsgrenze geht, kann man sich interne Konflikte zwischen Wunsch und Gedanken nicht mehr erlauben. Wer tatsächlich nicht daran glaubt, Boulder X klettern zu können, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht tun.

Es geht also darum, den Erfolg zu erwarten, ohne allzu fest mit ihm zu rechnen. Täten wir letzteres, würden wir uns nicht mehr bemühen. Daran zu glauben, und zwar fest, dass das Projekt kletterbar ist, wenn wir unser Bestes geben – das gehört zur Grundausstattung der mentalen Fitness. In der Sportpsychologie nennt man dies "Kompetenzerwartung". Nur wer sich etwas zutraut, kann dies auch abliefern. Also gilt es, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten solide aufzubauen. Trainingserfolge helfen hier: sich erreichbare Etappenziele zu setzen, ist also eine sinnvolle Strategie. Je verbindlicher und präzise diese Ziele formuliert sind, desto wirksamer ist ihr Effekt.

Das ideomotorische Training

Als sehr hilfreich hat sich auch die Technik des Visualisierens herausgestellt. Gemeint ist damit die präzise Vorstellung der Bewegung, also zum Beispiel der nötigen Züge für eine Route oder einen Boulder. Beim Klettern und Bouldern und insbesondere im Wettkampf ist die Visualisierung, auch ideomotorisches Training genannt, ein selbstverständliches Element der Vorbereitung: Bei der Besichtigung, also wenige Minuten vor dem Start, gehen die Wettkämpfer die vor ihnen liegenden Boulder oder Routen mental durch. Sie versuchen, sich anhand der sichtbaren Griffe und Tritte bereits die erforderliche Bewegung vorzustellen.

Mit etwas Übung lässt sich so Zeit und damit Kraft sparen, die sonst akut in der Wand für die Lösung des Bewegungspuzzles aufgewendet werden müsste. Das Gleiche gilt natürlich auch für das Onsight-Klettern am Fels.
Auch beim Rotpunktklettern ist es üblich, das Projekt mental, also in der Vorstellung, zu klettern. So lassen sich neben der Erfolgszuversicht die eigenen Bewegungsabläufe verbessern. Und das sogar besser als in der tatsächlichen Ausführung: Denn anders als in der Realität lässt sich in der Fantasie die perfekte Durchführung ohne Fehler üben.

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Anna Piunova

Laut Eberspächer ist es dabei sinnvoll, sich die Ausführung so lebhaft wie möglich vorzustellen: "Beim ideomotorischen Training vergegenwärtigt man sich die Innenperspektive einer Handlungssequenz, das heißt, man versetzt und fühlt sich in die Ausführung hinein, um sie unter Einbezug möglichst vieler Sinnesmodalitäten nachzuempfinden; zum Beispiel versucht man Kräfte, Zug, Druck, Spannung und Entspannung zu spüren und wahrzunehmen." Je lebhafter diese Vorstellung gelingt, desto deutlicher der Effekt. Studien haben nachgewiesen, dass sich sogar das Muskelwachstum damit steigern lässt.

Andere Visualisierungstechniken helfen dabei, eine bestimmte Stimmung mit Bildern zu verknüpfen. Dies übt die Mentaltrainerin Alexandra Albert aus Darmstadt zum Beispiel mit den Mitgliedern vom Expeditionskader des DAV (siehe nächste Seite). Die jungen Alpinisten lernen dabei, ausgewählte Bilder mit speziellen Erregungszuständen zu verknüpfen: Wer eher zögerlich veranlagt ist, soll mit seinem selbstgewählten Symbolbild eine entschlossene und selbstbewusste Haltung verinnerlichen. Wer eher hitzköpfig oder angespannt ist, holt mit dem vorgestellten Bild Entspannung und Souveränität hervor.

Diese Bild-Stimmungs-Kopplung muss, wie alle Mentaltechniken, geübt und trainiert werden, denn die im Spitzensport oder auch am Berg abzuliefernden Aktionen sind dermaßen komplex, dass allzu bewusstes Denken die Abläufe eher stört. Zu bewusstes, absichtliches Steuern und Kontrollieren-Wollen bremst einen flüssigen Bewegungsablauf. Derartiges Verkopfen ist außerdem imstande, ungünstige Denkmuster wie Versagensangst zu fördern. Angst ist generell hinderlich.

Flow beim Klettern

AL Gehirn im PET - Kontrastmittel leuchtet rot
Jens Langner (gemeinfrei)

Der Fokus aufs Tun erschafft bei geübten Sportlern (Kletterern, aber auch Musikern) eine Art gedankenfreien Raum. Darin ist kein Platz für Angst, Zweifel oder andere Ich-bezogene Sorgen. Wer nach einigem Projektieren den Durchstieg schafft, hat sich bestimmt schon einmal gewundert, wie leicht und mühelos die Aneinanderreihung der schweren Kletterzüge schließlich gelang: nahezu ohne Anstrengung, im Flow eben. Doch wie bekommt man es hin, sich positiv eingestellt in den Flow zu begeben, Motivation und Konzentration zu bündeln, so dass keine Fehler mehr passieren und man die vormals unmenschlich harte Crux hinauf­spaziert?

Für den Flow ist laut dem Psychologen Csíkszentmihályi nötig, dass die fragliche Tätigkeit eine Herausforderung darstellt, der wir aber gewachsen sind. Weiterhin ist Kennzeichen des Flows, dass wir uns zwar einen erfolgreichen Ausgang unserer Bemühungen erhoffen, aber das Ergebnis hinter dem Tun verblasst. Wir gehen im Moment auf, "sind eins" mit der Bewegung. Es gilt, sich von Erwartungen jeder Art frei zu machen. Dabei helfen Freude am Tun und Motivation. Doch was motiviert uns? Die Freude am Klettern? Unser Bedürfnis nach Anerkennung?

So oder so: Motivation ist unsere beste Verbündete. So sind erfolgszuversichtliche Personen dann am meisten motiviert, wenn das Ergebnis (Erfolg oder Misserfolg) unsicher ist. Deshalb finden wir schwere Routen und Boulder so reizvoll: Wenn der Erfolg nicht garantiert ist, schmeckt sein Eintreffen doppelt süß. Wer dagegen seine Motivation vor allem aus der Angst vor dem Misserfolg zieht, fährt schlecht, denn Flow stellt sich bei Angst und Sorge nicht ein.

Doch auch der Erfolg ist nur ein halbgares Motiv. Wer sich am Ergebnis festbeißt, vergisst, sich dem Prozess zu widmen, und hat es ebenso schwer, in den Flow zu finden. Das zeigte auch das Beispiel von Chris Sharma in First Round First Minute: Erst als er ohne Erwartung in die Route eingestiegen war, konnte er sich aufs Tun konzentrieren, innerlich loslassen und den Flow ermöglichen, der im Bouldern und Klettern nicht nur zum Erfolg verhilft, sondern letztlich auch das ist, was uns immer wiederkehren lässt.

Buchtipps Mentaltraining

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OW Barth / Spitta

"Praxis der Sportpsychologie"
Mentales Training im Wettkampf- und Leistungssport – Jürgen Beckmann und Anne-Marie Elbe,
2. Auflage 2011 Spitta Verlag

"Meditation für Skeptiker"
Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst – Ulrich Ott,
O.W. Barth Verlag

Mehr:

Interview mit Mentaltrainerin Alexandra Albert

Du verwendest im Mentaltraining neben anderen Übungen erst einmal Entspannungstechniken. Warum?

Entspannt sein ist die Grundlage für alle geistige Arbeit. Ich muss mich in einen entspannten Zustand begeben können, um mich konzentrieren lernen zu können, Bewegungen visualisieren zu können, oder auch um meine Emotionen zu beobachten und mit ihnen zu arbeiten. Das geht gut über Atemübungen, auch Yoga und Meditation sind verbreitete und hilfreiche Techniken. Vor allem für die Regeneration ist dies wichtig. Das ist gerade ein ganz großes Thema.

Inwiefern?

Gerade im Leistungssport – oder auch beim Bergsteigen und Klettern – steht man unter großem Druck und ist unter Dauer-Stress. Sich erholen zu können, auch kurzfristig, ist aber grundlegend, um an die eigenen Ressourcen heranzukommen. Auch körperlich gesehen: Um besser zu werden, müssen wir uns Pausen gönnen. Mentaltraining verändert die Qualität des Sports.

Wie kann ich mir das vorstellen?

Es ist ein Training, kein Wunderwerk. Es hilft nichts, mal sporadisch oder vor einem Wettkampf zu sagen: "Jetzt mache ich mal eine Übung, das habe ich mal gelesen." Im Mentaltraining schauen wir uns evolutionäre oder persönliche Muster an und überprüfen, ob sie helfen oder schaden. Dann arbeitet man daran oder verstärkt die eigenen Stärken. Mit mehr Übung lässt sich dann Hilfreiches besser abrufen, und auch körperliche Effekte werden bemerkbar.

So geht's: Mentaltraining fürs Bouldern und Klettern

Was sind weitere zentrale Themen im Mentaltraining?

Neben der Entspannungs- und Konzentrationsfähigkeit? Sicherlich Motivation, aber auch eine positive Grundhaltung. Und zu lernen, was einem gerade gut tut und was man braucht. Da ist auch Eigenverantwortung ein Thema. Soziales Umfeld und Netzwerk sind zwar der zweitwichtigste Faktor, wenn es um Leistung geht – aber selbst die Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen, ist der wichtigste.

Was ist neben all diesen Aspekten noch wichtig, was kann jeder Kletterer für sich ausprobieren?

Zielarbeit ist so etwas. Wenn ich mich verbessern möchte, suche ich mir ein realistisches Ziel und schreibe das auf. Auch mit qualitativen Attributen arbeiten und einen Termin setzen, zum Beispiel so: "Heute klettere ich geschmeidig und bewusst". Man weiß, dass Ziele eher erreicht werden, wenn sie konkret ausformuliert werden. Außerdem: sich selbst nicht zu ernst nehmen. Humor hilft immer.

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Albrecht Haag

Info zum Mentaltraining von Alexandra:
www.physiomental-training.de

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