Wanderung nach Ulm: Von Kirche zu Kirche

Kirchgänger
Über die Schwäbische Alb nach Ulm

Zuletzt aktualisiert am 04.04.2024

Als Hape Kerkeling 2009 den Bestseller über seine Wanderung auf dem Jakobsweg veröffentlichte, löste er damit einen regelrechten Pilgerboom aus. Bis heute zieht die Route nach Santiago de Compostela Reisende aus der ganzen Welt an. Auch wir haben beschlossen, unserer Tour eine Prise Wallfahrt beizumischen. Da uns aber nur zwei Tage zur Verfügung stehen, findet unsere Pilgerei wohnortnah statt, Motto: von Kirche zu Kirche. Aber was für Kirchen! In meiner schwäbischen Heimatgemeinde Neuhausen auf den Fildern, Luftlinie zehn Kilometer von Stuttgart, ragt die angeblich größte Dorfkirche Europas in den Himmel. Das Ziel soll das Ulmer Münster sein, mit seinen 161,53 Metern definitiv höher als jede andere Kirche der Welt. Eine Strecke von 85 Kilometern liegt dazwischen, und ganz nebenbei auch die Schwäbische Alb, ein stattliches Mittelgebirge, das es zu überqueren gilt. Ein ordentliches Bußprogramm für zwei Tage, und am Ende werden wir den bis zum Münster gelaufenen 1670 Höhenmetern noch 143 sehr steile hinzufügen: Peter Schaal-Ahlers, der freundliche Pfarrer des Ulmer Münsters, hat uns telefonisch zugesichert, dass wir uns die Treppenstufen bis zum höchsten zu Fuß erreichbaren Punkt des Münsters hinaufkämpfen dürfen, obwohl gerade Bauarbeiten im Gang sind. Eine Ausnahme und Ehre, denn eigentlich ist derzeit bei 70 Metern Schluss.

Wandern in Ulm
Björn Hänssler

Rekordverdächtig ist auch die Hitze

Früh an einem Spätsommermorgen treffe ich mich mit meinem Freund Jakob vor der Basilika St. Petrus und Paulus. Der gelbe Ball lugt über den Horizont und lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass die angekündigten Rekordtemperaturen erreicht werden. Normalerweise sind wir eher auf dem Rad unterwegs, aber mit einem Wanderrucksack auf dem Rücken erlebt man die heimischen Gefilde ganz anders. Obwohl ich dachte, dass ich jeden Stein im Umkreis von 50 Kilometern persönlich kenne, hat Komoot eine wunderbare Route durch die von Streuobstwiesen geprägte Landschaft gefunden, mit Wegen, die ich zuvor noch nie gegangen bin. Am linken Rand des Horizonts grüßt aus fast 800 Metern Höhe die Burg Teck zu uns herab, rechts die Ruine Hohen Neuffen. Zur Mittagszeit markiert beim Freiluftmuseum Beuren ein schmaler Pfad den ersten Aufstieg auf die Schwäbische Alb. "Ich bin komplett trocken", gibt Jakob eine Wasserstandsmeldung durch. Mittlerweile hat die Sonne die 30-Grad-Marke geknackt.

Wandern in Ulm
Björn Hänssler

Oben auf der Höhe, in Erkenbrechtsweiler, steuern wir nach 22 Kilometern einen Supermarkt an und tanken Brenn- bzw. Löschstoff. Der Blick aufs Handy zeigt: noch nicht mal Halbzeit, und wir haben erst den ersten Anstieg hinter uns. Auf dem Weg hinab ins Lenninger Tal wird die Luft mit jedem Tiefenmeter heißer. So sind wir auch nicht traurig, dass es gleich zum zweiten und finalen Albanstieg geht. Durch einen wilden Bannwald im Donntal zieht sich ein anspruchsvoller Pfad hinauf und bietet einen weiten Blick auf die Albhochfläche. Das vergnügte Kreischen vom Fahrtwind gekühlter Jugendlicher weht von der örtlichen Sommerrodelbahn herüber, als wir die Skipiste des Donnstetter Hausberges hinunter ins Dorf laufen.

Jakob plumpst auf eine Mitfahrt-Bank, checkt seine Blasen an den Füßen und verweigert kurzfristig das Weitergehen. "Wir haben es fast geschafft", lüge ich ihn an. Fünfzehn Kilometer heute noch, und die Uhr zeigt schon kurz vor fünf. "Das nächste Mal nehmen wir ein Rad mit", murrt Jakob und gibt seinen Sitzstreik auf. Die Sonne nähert sich dem Horizont und taucht die Alb in ein warmes Licht. Leider sinken die Temperaturen kaum, runter geht nur die Stimmung. Und als wir gegen halb acht endlich Laichingen erreichen, sehen unsere Bewegungen gar nicht mehr geschmeidig aus. Erschöpfung, Durst und vor allem Hunger leiten uns am Ortsausgang zu einem asiatischen Restaurant, das zufällig auf unserem Track liegt. Umwege sind längst nicht mehr denkbar.

Wandern in Ulm
Björn Hänssler

"Vier alkoholfreie Biere", raune ich die freundliche Bedienung zur Begrüßung an. Sie versteht den Ernst der Lage und serviert im Expresstempo das kühle Weizengetränk. Unfähig, in die kulinarischen Feinheiten der 30-seitigen Karte einzutauchen, ordere ich irgendwas mit Hühnchen und Gemüse. "In süßsaurer Soße?", erkundigt sich die unbeirrt lächelnde Servicekraft. "Süß? Zucker? Klingt super!", meldet mein Gehirn. Ich nicke stumm. Jakobs Bestellung fällt zweisilbig aus: "Ich auch." Die Dringlichkeit unserer Bestellung scheint sich bis zum Küchenchef herumgesprochen zu haben – nach wenigen Minuten kommt die zierliche Bedienung schwerstbeladen an unseren Tisch und serviert eine halbe frittierte Hühnerfarm samt mächtiger Reisberge.

In den nächsten zehn Minuten läuft unser Kalorienbagger auf Hochtouren. Aber selbst Jakob, der ein wahrer Könner an der Gabel ist, schafft nicht alles. Ich bin mir nicht sicher, ob Sättigung oder Müdigkeit der limitierende Faktor ist, fest steht aber, dass ich auf den 800 Metern bis zur Unterkunft mit Sekundenschlaf kämpfe. Unser Bewegungsapparat nutzt die traumlose Nacht gut. Sicheren Schrittes fallen wir über das Frühstücksbuffet her und vollenden die extensive Kalorieneinlagerung vom Vorabend. Kurz nach sieben machen wir uns gut gelaunt auf die restlichen 33 Kilometer bis zum Ziel unserer ökumenischen Wanderung – die Basilika in Neuhausen ist katholisch, das Ulmer Münster evangelisch.

Vom Münster fehlt jede Spur

Auch heute scheint der glühende Stern Großes vorzuhaben. Gut, dass der Track zunächst durch das schattige und saftig grüne Kleine Lautertal führt. Auf einem breiten Schotterweg geht es bis zur Gemeinde Lautern, dann verlassen wir auf einem steilen Pfad das Tal und befinden uns bald wieder auf freiem Feld. Schlagartig steigt die gefühlte Temperatur bedenklich an. Es sollten jetzt noch 15 Kilometer sein. Aber von Ulm oder gar dem Münster fehlt jede Spur. Am Ortsausgang der Gemeinde Weidach ein Wanderweg, der wohl nach Jakob benannt worden ist. Doch die Freude über das gelungene Wortspiel-Foto hält nur sehr kurz an – Ungeduld macht sich breit. Jeden Antennenmast, der über den Horizont lugt, erklären wir aus der Entfernung zur Kirchturmspitze. Nur um uns dann wenig später enttäuscht den Irrtum eingestehen zu müssen.

Erst hinter der Universitätsklinik am Eselberg öffnet sich dann doch der Blick über Ulm. Und zum ersten Mal sehen wir das Ulmer Münster in der Ferne. Die Enttäuschung steht Jakob ins Gesicht geschrieben: "Das sieht aber ziemlich klein aus", klagt er. "Na ja, sind auch noch fünf Kilometer", beruhige ich ihn und vor allem mich selbst. Schnell tippen wir noch eine Nachricht an Pfarrer Schaal-Ahlers. "Sind in einer Stunde da."

Wandern in Ulm
Björn Hänssler

Nach zwei Tagen Natur wummert der Straßenlärm in Ulm unangenehm laut in unseren Ohren. Je näher wir der Kirche kommen, desto mehr wird uns die Fehleinschätzung der Ausmaße klar. Dieses Bauwerk ist monumental. Endlich stehen wir direkt davor und verrenken uns die Köpfe beim Blick ganz nach oben (wer sich noch mehr verrenken will: 2026 soll der höchste Turm der Sagrada Familia in Barcelona 171 Meter erreichen). Durch Heerscharen von Touristen kämpfen wir uns zum Infostand und fragen nach unserem unauffindbaren Ansprechpartner. Leider kann die freundliche Dame uns auch nicht weiterhelfen. Sie erreicht Herrn Schaal-Ahlers nicht, der, wie sich später herausstellt, in einem Trauergespräch war.

Langsam wird die Zeit knapp, und wir machen uns ziemlich geknickt auf den Weg durch das Treppenhaus zur Aussichtsplattform. Die Fernsicht beeindruckt, aber eigentlich hätten wir ja ganz hoch wollen, und es fühlt sich wie eine kleine Niederlage an. Doch einen letzten Funken Hoffnung haben wir noch: "Der Turmwächter hat einen Schlüssel, vielleicht lässt der euch hoch", gab uns die Mitarbeiterin am Infostand noch mit auf den Weg. Also klopfen wir unsicher an eine schwere Holztüre. Es öffnet ein älterer Herr und hört sich unsere Geschichte mit kritischem Blick an. Dann dreht er ab, und wir wollen schon resignieren. "Ich hol kurz den Schlüssel – war da selber seit einem Jahr nicht mehr oben!"

Und so dürfen wir doch noch jede einzelne der 768 Stufen des Ulmer Münsters erklimmen. "Das nenne ich Pilgern auf höchstem Niveau", sage ich und genieße die einmalige Aussicht.

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