Tessiner Wanderparadies - Val Bedretto im Portrait

Wandern im Tessin: Geheimtipp Val Bedretto
Tessiner Wanderparadies - Val Bedretto im Portrait

Zuletzt aktualisiert am 10.08.2009
Tessin
Foto: Mirjam Hempel

Alpentälern an Transitstrecken geht es wie Mauerblümchen: Unbemerkt von den Vorbeiziehenden fristen sie schweigend ihr Dasein, während sie insgeheim nur darauf warten, endlich entdeckt zu werden. Das Bedretto, ganz im westlichen Norden des Kantons Tessin gelegen, ist so ein Fall. Wer von Süden her über oder durch den Gotthard heimwärts braust, lässt das schmale Tal zwischen dem Felsriegel Stalvedro unterhalb von Airolo im Osten und dem Nufenenpass im Südwesten buchstäblich links liegen. Dabei braucht das 24 Kilometer lange Tal den Vergleich mit seinen berühmten Geschwistern weiter südlich nicht zu scheuen. Ganz im Gegenteil: Während Maggia- und Verzascatal in den Sommermonaten oft überlaufen sind und durch die Valle Leventina der Transitverkehr rauscht, finden Wanderer an den Talflanken rechts und links des Bedrettos reizvolle Berg- und Passtouren. Die relative Abgeschiedenheit macht das Tal zu einem echten Geheimtipp für Ruhe suchende Individualwanderer, aber auch Familien.

Passo Del Corno und Nufenenpass

Eine der schönsten Touren führt von einem Parkplatz an der Nufenenpass­straße aus dem Bedrettotal heraus und über den Passo del Corno zum Nufenenpass. Zwischen Alpenrosen steigt man bergan zur Corno-Gries-Hütte und lässt die Straße langsam unter sich. Hinter der Hütte wähnt man sich dann gänzlich von der Zivilisation abgeschnitten. Immer tiefer führt der sanft ansteigende Pfad ins einsame Val Corno, das als Verlängerung des Bedrettotals nach Südwesten zieht. Rechts schirmt das Bollwerk des lang gestreckten, 2865 Meter hohen Nufenenstocks das kleine Hochtal nach Norden ab.

Tessin Finsteraarhorn
Mirjam Hempel

Im Süden bildet die felsige Bergkette des über 2900 Meter hohen Gries- und Rothentalhorns eine natürliche Barriere und Grenze zu Italien. Die Füße folgen dem Pfad zunächst durch Wiesen und über Matten, später zunehmend über Fels und Stein in eine urzeitlich anmutende Geröllwüste. Schrill pfeifend stieben die zahlreichen Murmeltiere hier auseinander, bevor sie schutzsuchend hinter großen Felsbrocken verschwinden. Am Passo del Corno führt die Tour in den Nachbarkanton, ins Wallis. Nach und nach wird die Landschaft lieblicher. Am höchsten Punkt der Tour, auf fast 2500 Meter, schimmert von weiter unten türkis der Griessee herauf, den der gleichnamige Gletscher mit Schmelzwasser speist. Der Weg aber bleibt in der Höhe und führt rasch über freies Wiesengelände zum Nufenenpass und damit wieder zurück auf Tessiner Boden.

Tessin Bedrettotal
Mirjam Hempel

Chilchhorn

Mit 2478 Metern ist er der höchste Pass ganz auf Schweizer Territorium und einer der jüngsten der erschlossenen Übergänge. Erst im Jahr 1969 wurde die Landstraße von Airolo im Tessin nach Ulrichen im Wallis fertig gestellt. Die Entvölkerung des Tals konnte auch die bessere Anbindung an die Außenwelt nicht stoppen. Aufgrund der hohen Lage der Dörfer zwischen knapp 1300 und 1600 Metern und der langen Winter ist die Landwirtschaft nicht gerade einträglich. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die Bauern, in südlichere Regionen zu flüchten. Im Jahr 2000 lebten nur noch 70 Einwohner in der Gemeinde Bedretto, die flächenmäßig eine der größten des Tessins ist. Die geringe Bevölkerungsdichte führt zu einem äußerst merkwürdigen Superlativ: Das Bedretto hat eine der höchsten Restaurant-Dichten der Schweiz. Auf ein Restaurant kommen so stattliche elf Einwohner!

Hoch über dem Val Bedretto thronen auf der Grenzlinie Wallis/Tessin rechts und links der Passhöhe wie zwei steinerne Grenzbeamte das Chilchhorn, 2784 m, und der Nufenenstock, 2865 m. Es lohnt sich, das Chilchhorn vom Nufenenpass aus zu besteigen. Entweder als Finale der Tour durchs Val Corno oder an einem anderen Tag als eine eigene kurze Wanderung. Wer eine kleine Klettereinlage nicht scheut, sollte sich das Panorama, das sich oben bietet, keinesfalls entgehen lassen.

In einer knappen Stunde führt ein schmaler Pfad das erste Stück über Gras und im späteren Verlauf über Geröll zu einer alten Militärbaracke am Fuß der Gipfelfelsen hinauf. Ein kleiner Durchschlupf etwas links führt zu einem Steig, der einmal beherztes Zupacken fordert. Kurz darauf steht man dann verdient am höchsten Punkt, der einem, schmal und ausgesetzt, die Welt zu Füßen legt, zumindest die der Tessiner, Walliser und Berner Alpen. In Richtung Südwesten, fast zum Greifen nah, schimmert das weiße Blinnenhorn, 3374 Meter hoch, mit seinem mächtigen Gletscher. Im Westen geben Lauteraar- und Finsteraarhorn ein trautes Paar ab, und tief unten mäandert die Nufenenpassstraße wie eine sich träge in der Sonne räkelnde Schlange.

Blickt man vom Chilchhorn Richtung Südosten hinab, erschließt sich die Geologie des Val Bedretto. Innerhalb Hunderttausender Jahre haben Eiszeitgletscher aus der Landschaft ein Trogtal geschliffen. Auf beiden Talseiten ragen leicht bewaldete Flanken bis etwa 1800 Meter Höhe auf. Es folgen sanft ansteigende, üppige Alpwiesen. Sie bilden die sogenannten Trogschultern und sind ein ideales Gelände für leichte Einsteigertouren.

Tourentipps

Bassa de Folcra und Capanna Cristallina

Bassa de Folcra

Was Wanderer jenseits der Trogschulter erwartet? Eine große Rundtour über die Scharte Bassa del Folcra enthüllt die Geheimnisse. Dafür fährt man im Tal von Airolo in die sieben Kilometer entfernte Ortschaft Ossasco und erklimmt von dort in südlicher Richtung zunächst die Schulter. Begleitet vom Zwitschern der Vögel, geht es durch lichten Wald auf der linken Seite des Ri-di-Cristallina-Bachs empor. Bald werden die Bäume spärlicher, die Sonnenstrahlen intensiver und das Vogelzwitschern leiser. Nach einer guten Stunde Gehzeit begrüßen weit klingende Kuhglocken Wanderer auf der Alpe Cristallina, die Trogschulter ist erreicht. Hinter der Alpe ändert sich das Bild schlagartig: Im Val Torta empfängt den Wanderer eine sanft geneigte, mit Gras bestandene Einöde, eingerahmt von dunklen Felsspitzen.

Auf dem gemütlichen, leicht ansteigenden Weg durch das Tal herrscht reger Betrieb. Kein Wunder, es ist der Zustiegsweg zur neuen Cristallina-Hütte. Ein Abstecher von der eigentlichen Wanderung kostet rund eine Stunde und schlägt mit weiteren 150 Höhenmetern zu Buche. Der flache, helle Holzbau im Stil alter Stallgebäude wurde 2001 und 2002 direkt neben dem Cristallina-Pass errichtet und im Juli 2003 eröffnet. Der Pass trennt das Val Bedretto vom hintersten Maggiatal/Val Bavona; die neue Hütte liegt auf dem Schnittpunkt beider Regionen. Von hier sind es wiederum nur weitere 315 Höhenmeter bis zum Gipfel der felsigen Cristallina. 315 Höhenmeter, die teilweise weglos durch Geröll und Felsen führen und hart erkämpft werden müssen.

Die alte Hütte jedoch oder, besser, das, was nach einem großen Lawinenabgang im Winter 1999 von ihr noch übrig geblieben ist, erleben Wanderer bei ihrem Weiterweg ganz hinten im Val Torta. An der Holzruine versucht ein Pfad, nach links und damit Richtung Passo del Naret zu locken. Er erschließt eine reizvolle Wandertour, die im späteren Verlauf an aufgestauten Seen vorbei ins hintere Maggiatal führt – falls man der Verlockung nachgibt.

Tessin Passo di Rotondo
Tessin Passo di Rotondo
Mirjam Hempel

Capanna Cristallina

Aber jetzt wird erst mal dem Trogtal über die Schulter gelugt! Der Weg zur Aussichtsscharte Bassa di Folcra führt bei der alten Capanna Cristallina geradeaus Richtung Cristallina-Pass und biegt bald darauf rechts auf einen unscheinbaren Wiesenpfad mit Einsamkeitsgarantie ab. Immer höher geht es auf dem Wiesenhang der Scharte entgegen. Ein großes Loch, das mitten durch den Grasrücken führt, entpuppt sich beim Näherkommen als stillgelegte Materialseilbahn. Rechts im modrigen Tunnel steht eine vergammelte Baracke mit Sitz- und Schlafgelegenheit, die jedem Gruselfilm als Hintergrundkulisse dienen könnte.
Jenseits der Scharte schlängelt sich der felsige Pfad in spitzen Kehren hinab ins Val Casinello. Hier, im Talschlussrund, liegen oft noch Altschneereste. Der Pfad verliert sich in einer einsamen, grauen Steinlandschaft. Obwohl er später zwei idyllische Bergseen berührt und durch grüne Hügel streift, wirkt die Gegend im Vergleich zum Val Torta unnahbar und wild. Auf menschliche Spuren trifft man erst wieder bei der Folcra di Mezzo, einer kleinen Steinhütte mit rotem Blechdach und Brunnen auf 1921 Meter Höhe. Etwas unterhalb des kleinen Refugiums geht es rechts auf den wieder belebteren Wanderweg, der die Trogschulter links hinabführt, zurück zum Startpunkt in der Ortschaft Ossasco.

Nach solch einem erfüllten Wandertag, gespickt mit neuen Eindrücken, breitet sich wohlige Zufriedenheit in einem aus. Welche Schönheiten wird es morgen im Val Bedrettto zu entdecken geben? Mit Neugierde und Vorfreude auf den kommenden Tag wird man dann müde ins Bett fallen und in der Nacht von bunten Mauerblümchen träumen.

Weitere Wandertipps:

Für Ihre Planung: alle Details zum Val Bedretto

Die schönsten Touren:

Romantisch wild, felsenreich und steinkarg präsentiert sich der nördliche Teil des Nordtessins dem Wanderer. Neben vielen gut ausgebauten Wanderwegen führen versteckte Pfade durch saftige Wiesen, über grüne Matten und Geröll zu längst vergessenen Ruinen und einsamen Passübergängen. Genusswanderer, Familien und Abenteurer – hier kommen alle auf ihre Kosten.

Lage:

Das Val Bedretto liegt im Norden des Kantons Tessin. Auf einer Höhe zwischen 1175 und 2478 Metern zieht es von der Stalvedro-Schlucht bei Airolo im Osten bis zum Nufenenpass im Westen. Die Bergkette auf der nördlichen Talseite bildet die Grenze zu den Kantonen Uri und Wallis. Der Nufenenpass markiert den Übergang ins Wallis.

Anfahrt:

Mit dem Auto von Zürich über Schwyz oder Luzern und auf der A 2 durch den Gotthardtunnel bis nach Airolo. Weiter auf der Landstraße Richtung Nufenenpass. Bei der Anreise mit der Bahn reist man vom Hauptbahnhof Zürich mit dem Zug nach Airolo und von dort weiter mit dem Postauto Richtung Nufenenpass.

Beste Zeit:

Je nach Schnee- und Höhenlage der Touren zwischen Mitte Juni bis Ende September. Gerade nach strengen Wintern kann in den hohen Lagen viel Restschnee liegen.

Übernachtung:

Osteria Pizzo Rotondo, CH-6781 Bedretto, Tel. 00 41/91/8 69 21 61, Fax 00 41/91/8 69 18 67; Stella Alpina, CH-6781 Ronco
Bedretto, Tel. und Fax 00 41/91/8 69 17 14, www.stellaalpina.ch; Ristorante All’Acqua*, CH-6781 All’Acqua, Tel. 0041/91/8 69 11 85, www.allacqua.ch

Buchtipp:

Wanderführer Tessin, Mirjam Hempel, Kompass Verlag 2005, 127 Seiten, 11,95 Euro.

Kartentipp:

Kümmerley + Frey, Wanderkarte Tessin, Sopraceneri, Valle Maggia–Valle Leventina, 1 : 60 000, 13 Euro. Diese Karte deckt sämtliche hier vorgestellten Touren ab. Für die Routen, die Orien­tierungssinn erfordern, empfehlen sich die Schweizer Landeskarten in kleinerem Maßstab: Schweizer Landeskarte, Val Bedretto, Blatt 1251, 1 : 25 000, 8,95 Euro; Schweizer Landeskarte, Nufenenpass, Blatt 265 T, 1 : 50 000, 14,95 Euro.

Info:

Leventina Turismo, CH-6780
Airolo, Tel. 00 41/91/8 69 15 33, Fax 00 41/91/8 69 26 42, www.leventina turismo.ch; Ticino Turismo, Via Lugano 12, CH-6501 Bellinzona, Tel. 00 41/91/8 25 70 56, Fax 00 41/91/8 25 36 14, www.ticino-tourism.ch

outdoor-Tipp:

An einem Wanderruhetag lohnt sich ein Besuch des »Infozentrums Gotthard Süd« in Pollegio. Neben Informationen und Führungen zur Baustelle des 153 Kilometer langen Gotthard-Basistunnels behandelt die multimediale Ausstellung auch touristische, historische und kulturelle Themen des Oberen Tessins. Anfahrt: Von Airolo folgt man der Gotthardautobahn Richtung Süden bis zur Autobahnausfahrt Biasca, und anschließend geht es weiter Richtung Cantiere AlpTransit Richtung Pollegio/Gotthard (30 Min., 40 km).

Informationen:

www.infocentro.ch, Tel. 00 41/91/8 73 05 50, Fax 00 41/91/8 73 05 55.

Tessin Karte

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