- Tessin: Tal der hundert Täler
- Auf dem Weg zum Nationalpark im Tessin
- Traditionelle Mahlzeiten in den Dörfern des Tessins
- Reiseinfos
- Einkehr – und Übernachtungsmöglichkeiten
- Weitere Tipps von Reiseredakteur Roy Fabian
Dschungel. Dieses Wort schießt immer wieder durch den Kopf, wenn der Blick über diese sagenhaft sattgrün leuchtenden Bergflanken schweift. Steil stürzen sie ab, über hunderte Meter – dorthin, wo sich der Isorno derart tief ins Gestein geschnitten hat, dass er im dichten Blättergewirr verborgen bleibt. Valle Onsernone, so heißt dieses geheimnisvolle Ensemble im westlichen Tessin. Obwohl nur ein paar Minuten Autofahrt vom Ufer des Lago Maggiore entfernt, an dessen Ufern das Treiben Locarnos und Asconas braust, wirkt das Tal wie in sich versunken. Lediglich an seinen Nordhängen schimmert, wie Inseln im Wald, eine Handvoll winziger Ortschaften, in denen sich Häuser und Gassen eng aneinander drängen. Ganz so, als müssten sie sich gegenseitig Halt geben, um nicht in die Schlucht zu sacken. Wer die Einsamkeit sucht, dürfte im Onsernone also fündig werden. So wie Max Frisch, der viele Jahre im Dörfchen Berzona verbrachte: "Ausserhalb von allem” sei man hier, notierte der Schriftsteller, in einem Tal, "waldig wie zur Steinzeit”. Wanderer können es ohne Probleme erkunden: Die Pfade im Onsernone und seinen Nachbartälern umfassen gut 230 Kilometer. Einige der schönsten Wanderwege stellen wir euch hier vor:
Das lieblich-sanfte Anlitz der Umgebung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass lockere Spaziergänge eher die Ausnahme bleiben: Bis auf über 2000 Meter schrauben sich manche Pässe und Berge. Einer davon ist der Pilone (2192 m), der direkt auf der Grenze zu Italien thront, 30 Kilometer westlich von Locarno. Wer ihn besteigen will, findet in Spruga ganz am Ende des Onsernone Gelegenheit: Vom Ortskern windet sich ein Weg hoch zur alten Alm Cima al Corte, anschließend geht es im Schatten unzähliger Laub- und Nadelbäume weiter bergan. Am Passo del Busan, gut 900 Höhenmeter über dem Ausgangspunkt, ist der Gipfelgrat des Pilone erreicht – und der sonst so üppige Wald einer Graslandschaft gewichen. Bei gutem Wetter entfalten sich fantastische Aussichten, die gen Westen bis zu den schneebedeckten Viertausendern des Wallis reichen.
Tessin: Tal der hundert Täler
Und gutes Wetter gibt es hier oft: Nur wenige Plätze in der Schweiz verzeichnen mehr Sonnenstunden als das Onsernone oder das benachbarte Centovalli, das von zahlreichen Seitenschluchten zerschnittene »Tal der hundert Täler«. Zugleich sind die Niederschläge nirgendwo im Land heftiger als hier: Wenn es regnet, dann kann es passieren, dass Bäche sprunghaft anschwellen und die Erde ins Rutschen kommt. Es waren Unbilden wie diese, gepaart mit der zerfurchten Landschaft, die das Siedeln in der Region im Zaum hielten. Wobei man es durchaus versuchte: Ab dem 12. Jahrhundert rodeten die Menschen den Wald und rangen den Bergen eine karge Subsistenzwirtschaft ab. Angesichts begrenzter Acker- und Weideflächen war der Hunger dennoch ein häufiger Gast. Das Centovalli etwa trug bald den unrühmlichen Spitznamen »Kaminfegertal«,weil sich viele der dort ansässigen Familien gezwungen sahen, ihre Kinder als Kaminfeger nach Oberitalien zu schicken.
Die Onsernonesi wiederum begegneten der Armut damit, Roggenstroh zu Hüten oder Taschen zu flechten. Ihre Waren gingen nach ganz Westeuropa, und diejenigen, die der Handel reich machte, erbauten sich im Tal prächtige Wohnhäuser, von denen einige wie der Palazzo della Barca oder der Palazzo Gamboni bis in die Gegenwart überdauert haben. Als Billigkonkurrenz aus dem Ausland das Geschäft zum Erliegen brachte, entvölkerte sich jedoch auch das Onsernone in Richtung Italien, Frankreich, Nordamerika oder Australien. Heute kommt die Gemeinde auf gerade mal sieben Einwohner pro Quadratkilometer. Die Folgen können Wanderer beim Abstieg vom Gipfel des Pilone besichtigen: Zwar erahnt man ganz hinten im Südosten am Lago Maggiore die Städte der Nachbarkommunen Locarno, Ascona und Minusio. Davor jedoch, im Onsernone zur Rechten und dem Valle di Vergeletto zur Linken, hat sich der Wald Stück um Stück das zurückgeholt, was die Menschen zurückließen.
Auf dem Weg zum Nationalpark im Tessin
Erneut manifestiert sich der Gedanke: Was für ein Dschungel! So geht es auch dem Forstwirt Roberto Buffi. Die weiten und störungsfreien Naturareale könnten uns Bilder schenken, »die an Urwald erinnern«, sagt er. Buffi war maßgeblich daran beteiligt, dass in den Tälern inzwischen fünf Waldreservate eingerichtet wurden. Sie umfassen insgesamt etwa 1800 Hektar und sind jeglicher forst- wirtschaftlicher Nutzung entzogen, die sich hier ohnehin kaum mehr lohnt. Ein Gewinn nicht nur für die lokale Artenvielfalt, wie Buffi meint: Die Reservate dienten auch als »essenzielle Orte« und »Beispiel einer friedlichen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Sie tun uns gut, sie regenerieren Körper, Geist und Seele«. Bei den fünf Schutzgebieten soll es nun nicht bleiben. Sie sind als Herzstücke des Nationalparks Locarnese vorgesehen, der von den mediterranen Brissago-Inseln im Süden bis zur Hochgebirgswelt des Wandfluhhorns (2863 m) im Norden reichen soll. Die Pläne sind umstritten, manche fürchten zu viele Einschränkungen. Die Befürworter betonen, dass der Park ganz ausdrücklich besiedelt bleiben soll. Mehr noch: Sie erhoffen sich wertvolle Impulse, um die Täler am Leben zu erhalten – denn die Abwanderung dauert an.
Eine Volksabstimmung soll demnächst Klarheit bringen, ob der Park kommt. Schon jetzt sind im Zuge der Initiative aber zahlreiche Projekte entstanden, die mithilfe der Vergangenheit den Weg in die Zukunft beschreiten. Ein Beispiel ist die Alpe Salei: Wanderer begegnen diesem hinreißenden Flecken Erde, wenn sie für die Rückkehr vom Pilone nach Spruga die östliche Alternativroute über den Bivio Pesced wählen. Der Umweg lohnt: Er führt vorbei am schmucken Laghetto dei Salei, in dessen Wassern Seegras wie Nixenhaar umherwogt. Wenig später stößt man dann auf die Alpe Salei – inmitten weiter Wiesen, auf denen im Frühjahr die Birkhühner balzen und im Sommer Bauern aus der Umgebung ihr Vieh weiden lassen. Auf Salei selbst findet keine Landwirtschaft mehr statt. Dennoch geschieht hier einiges: In dem mit Fördergeldern renovierten Stall werden Yoga-Kurse und Workshops veranstaltet, während das ehemalige Wohnhaus Herberge und Gaststube in einem ist.
Traditionelle Mahlzeiten in den Dörfern des Tessins
Die Speisen, die die jungen Pächter Ilenia und Giancarlo auf der aussichtsreichen Freiluftterrasse servieren, spiegeln dagegen ganz klassisch die Geschichte der Täler:

Der Ziegenkäse und die Salami kommen traditionell hergestellt von lokalen Betrieben, und in dem köstlichen Brot steckt »farina bona«, das »gute Mehl«. Fast dreißig Mühlen gewannen es im Onsernone einst aus Maiskörnern. Übrig davon sind noch zwei. Ihr Produkt hat es nicht nur nach Salei, sondern auch in die örtlichen Supermärkte und Spitzenrestaurants geschafft. Im Centovalli, wenige Kilometer entfernt, spürt der Wanderer die Verwobenheit mit der Historie ebenfalls. So beginnt im Dorf Camedo an der Grenze zu Italien ein Pfad, über den die Menschen jahrhundertelang ihre Waren bis nach Locarno schafften. Heute führt er als »Via del Mercato« über zwölf Kilometer und gut vier Stunden bis nach Intragna, dem Hauptort des Centovalli. Ein ums andere Mal passiert er dabei verträumte Siedlungen. In Lionza etwa läuten Kuhglocken wie anno dazumal durch die Gassen, und in dem Viertel ober- halb des Ortskerns stehen dicht an dicht sogenannte Rustici: kleine Häuser aus rohem Stein, die dem herannahenden Wald trotzen.
Nicht von ungefähr stehen die meisten Dörfer des Centovalli unter Denkmalschutz – so auch Rasa auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Blühende Gärten durchziehen das märchenhafte Gehäuf aus uralten Bauern- und Patrizierhäusern, darüber erheben sich ein kleiner Kirchturm und schneeüberzuckerte Berge. Zugleich ist Rasa der einzige autofreie Ort des Tessins und nur per Seilbahn zu erreichen – oder eben zu Fuß. Eine Möglichkeit hierfür bietet der alte Lastenweg, der von Intragna hinaufführt. Wer die Mühen einer dann siebeneinhalbstündigen Tour nicht scheut, setzt die Wanderung in Richtung Südwesten nach Ronco fort – und begibt sich erneut in den Dschungel.Von Rasa aus klettert der Pfad über die einstige Alm Termine, die der Wald bereits verschluckt hat, hinauf zum Gipfel der Pizzo Leone (1659 m).Bei ihrer Überschreitung stockt der Atem im Angesicht des Lago Maggiore, der sich weit unten einem Fjord gleich durch das Berggewimmel windet. Und auch wenn die an seinen Gestaden aufgereihte Zivilisation nicht zu übersehen ist, fühlt man sich während des Abstiegs nach Ronco wie einst Max Frisch im Onsernone: außerhalb von allem.
Reiseinfos
Hinkommen
Mit der Bahn: Der nächste Fernbahnhof liegt in Bellinzona (Fahrverbindungen: bahn.de, sbb.de). Von hier besteht eine regelmäßige S-Bahn- Verbindung nach Locarno (tilo.ch). Mit dem Auto erreicht man Locarno von Norden her über die A2.
Herumkommen
Das Verkehrsmittel der Wahl sind vor Ort die Postbusse, die auch die entlegenen Täler der Locarno-Region bedienen (postauto.ch). Durch das Centovalli führt zudem eine landschaftlich phänomenale Bahnstrecke mit Haltestellen an allen wichtigen Orten des Tals (centovalli.ch). Weiterhin erleichtern in einigen Tälern Seilbahnen den Auf- und Abstieg (ticino.ch/de/plan/ moving-around.html). Den Lago Maggiore erkundet man mit dem Schiff (navigazionelaghi.it).
Orientieren
Die Webseite von Turismo Ticino bietet viel Wanderinfo, dazu einen Link zur Mobil-App Hike Ticino (ticino.ch). Analoge Helfer sind die Kompass-Wanderkarten »Valle Maggia/ Val Verzasca« (WK 110, wetterfest, 1:40 000, 14,95 Euro) und »Lago Maggiore/Lago di Varesa« (WK 90, 1:50 000, 7,95 Euro).
Beste Zeit
Prinzipiell sind die Monate von April bis Oktober am besten. In den Höhenlagen kann sich der Schnee jedoch lange halten beziehungsweise früh einsetzen. Das Locarnese ist sonnenverwöhnt, doch Vorsicht: Vor allem Onsernone und Centovalli sind für ihre zwar nicht häufigen, aber dafür umso heftigeren (Sommer-)Regenfälle berüchtigt.
Einkehr – und Übernachtungsmöglichkeiten
Alpe Salei
Für müde Wanderer ist ein Stopp an der ehemaligen Alm genau richtig. Geboten werden erstklassige Aussichten, gute regionale Küche sowie Bettenlager unter dem Dach. Übernachtung mit Abendessen und Frühstück 63 CHF (58 Euro). alpesalei.ch
Hotel Garni Ca Vegia
Ein plätschernder Brunnen begrüßt die Gäste vor dem Ca Vegia. Das historische Haus in der Altstadt von Golino liegt ruhig und trotzdem zentral. Weiterer Pluspunkt: die hilfsbereiten Inhaber. Übernachtung
mit Frühstück pro Person im EZ ab 95 CHF (87 Euro), DZ ab 68 CHF (62 Euro). hotel-vegia.ch
Camping Melezza
Der Platz befindet sich direkt an der Melezza am Eingang zum Centovalli. Wer kein Zelt dabeihat, kann in kleinen Holzbungalows schlafen. Übernachtung für zwei Personen ab 27 CHF (25 Euro). camping-melezza.ch
Campo Rasa
Übernachten ohne Autolärm: Das Campo in Rasa abseits aller Straßen ist christliches Begegnungszentrum sowie Herberge in einem. Am Ende des Dorfs verfügt es zudem über ein Ferienhaus. Übernachtung mit Frühstück pro Person im EZ ab 77 CHF (70 Euro), DZ ab 62 CHF (57 Euro). camporasa.ch
Osteria Centrale
Das hübsche Restaurant mit Außenterrasse liegt an der Piazza von Intragna. Die Karte hat einen italienischen Einschlag, aber es gibt auch Regionales in Spitzenqualität. Tipp: die Desserts. Via Municipio, Tel. 0041/917961284.
Ristorante Al Pentolino
Das Al Pentolino versteckt sich im geheimnisvollen Gassengewirr von Verdasio. Gepflegt wird eine mehrfach ausgezeichnete Tessiner Küche mit Zutaten aus dem eigenen Garten und der Region. alpentolino.ch
Grotto du Rii Grotti sind ehemalige Felskeller, die zum Restaurant ausgebaut wurden. Das Grotto du Rii in Intragna serviert zum guten Tessiner Wein Forelle, Kaninchen, Basilikumeis und andere Köstlichkeiten. Im Sommer isst man draußen auf der lauschigen Terrasse. grottodurii.ch
Weitere Tipps von Reiseredakteur Roy Fabian

In den Wald
Das Reservat Onsernone entwickelt sich wieder zu einem Urwald. Roberto Buffi, einer der Gründer des Schutzgebiets, bietet Führungen an, die der Natur, der Geschichte und dem Geist des Walds nachspüren. silvaforum.ch
Bad in Ruinen
Von Spruga am Ende des Onsernone-Tals geht es nur zu Fuß weiter. Nach gut 40 Minuten erreicht man die Bagni di Craveggia – ein verfallenes Thermalbad mit intakten Becken, die zur Entspannung mit Bergblick einladen. Offen von Mai bis September, Eintritt frei.
Bunte Insel
Auf der größeren der beiden Brissago-Inseln im Lago Maggiore wartet ein Spektakel der Farben und Formen: Die frühere Besitzerin Baronin Antoinette machte aus dem Eiland einen Garten mit subtropischen Pflanzen aus aller Welt. isolebrissago.ch
Langstrecke
Wer das Tessin fünf Wandertage und 71 Kilometer lang am Stück erleben will, der nimmt das »Trekking dei Fiori« unter die Füße: von den Brissago-Inseln bis Bosco Gurin im Norden. parconazionale.ch