Undurchdringlich wuchern mannshohe Latschenkiefern zu beiden Seiten des Wegs. In den höheren Lagen, wo sich keine Nadelbäume mehr behaupten können, formen karge Grasmatten ein Mosaik aus gletschergeschliffenen Felsen und losem Geröll. Und über allem ragen weithin sichtbar die eis- und schneebedeckten Gipfel von Adamello und Carè Alto empor, immer wieder verfangen sich Wolken in den Spitzen. »Und weit und breit keine Menschenseele ...«, wundert sich Fotograf Jens Klatt – muss man sich derartige Naturschauspiele doch oft mit anderen teilen. Doch hier, rund eine Autostunde westlich des Gardasees, ist von Trubel nichts zu spüren: Wild und ursprünglich geben sich die Seitentäler des Valle del Chiese und gewähren Wanderern einen Zugang zum Naturpark Adamello-Brenta. Ein paar Tage wollen Jens und ich sie erwandern. Und zwar auf diesen Touren:
Mit von der Partie ist Bergführer Jakopo, der uns diesen entlegenen Winkel des Trentino zeigen will. Die schwarzen Locken des 21-Jährigen wippen, als er uns in großen Schritten aus dem Kieferndickicht auf eine offene Wiese führt. Die Blicke fallen auf den Lauf des Chieses, der sich seinen Weg gegen unsere Laufrichtung durch das Val di Fumo bahnt, hinab zum Lago di Bissina, jenem Stausee, an dem wir gestartet sind. Immer wieder teilt sich der Gletscherbach, findet wieder zusammen, umtanzt weiß schäumend Felsen, stürzt Stufen hinab, um danach wieder ruhiger in leuchtendem Türkis dahinzufließen. Während er hier, an seinem Oberlauf, auf harte Tonalite trifft, hat er sich weiter südlich, im Val di Daone, tief in den weichen Sandstein eingeschnitten und hohe, steile Wände geschaffen.

Unzählige Wasserfälle stürzen über sie in die Tiefe. Ihre beeindruckenden Namen wie »Regina del Lago«, die Königin des Sees, oder »Machu Picchu« haben sie Eiskletterern zu verdanken – die Gegend ist für ihre »kristallenen Wände« im Winter berühmt. Das Val di Fumo und seine südliche Fortsetzung, das Val di Daone, sind kaum besiedelt. Dennoch hat der Mensch Spuren hinterlassen: Seit den 1950er Jahren nutzt man in den beiden Tälern die Wasserkraft des Chieses zur Gewinnung von Elektrizität und staute dazu gleich mehrere Seen. Der Lago di Bissina, der größte und höchstgelegene von ihnen, markiert den Übergang vom Daone- ins Fumo-Tal, in das man nur zu Fuß kommt. Unseren gut eineinhalbstündigen Marsch zur Berghütte Fumo empfiehlt Jakopo als Einstiegstour, denn bis auf einen letzten kurzen Anstieg wandert man entspannt auf etwa gleicher Höhe entlang dem Fluss. Die Pferdeherde am Ufer lässt sich nicht stören, nur eines der Tiere beobachtet neugierig, wer sich ihm nähert. Plötzlich bricht die Sonne hinter den Wolken hervor, und als kitzelten ihre Strahlen das Pferd in der Nase, wirft es den Kopf herum und galoppiert los, die weiße Mähne flattert im Wind.
Auf der Terrasse der Berghütte Fumo auf gut 1900 Meter Höhe sind es unsere Haare, die im Wind flattern. Eine steife Brise weht von den Bergen herab, doch die Aussicht hier oben ist einfach zu schön, um in der Stube zu sitzen. Und wenn zur hausgemachten Polenta Wild, Gemüse, Käse und Blaubeertorte aufgetischt werden, fühlt man sich wie ein König über dem wilden Tal. Die Polenta, der traditionelle Brei aus Maisgries, war, so erzählt Jakopo beim Essen, frü-her das Mahl der einfachen Leute und wurde mit dem ergänzt, was die Natur zur Verfügung stellte. Wie den Bären-Chicorée: »Er wächst wild und diente den Soldaten während des Ersten Weltkriegs als Gemüseersatz in den Bergen«, sagt Jakobo. Heute gilt er als Delikatesse. Nach dem Essen lehnen wir uns noch ein Weilchen zurück, lauschen auf das Rauschen des Flusses und das leise Pfeifen des Windes. Doch wer von der Fumo-Hütte nach Nordwesten zum Rifugio Carè Alto weiterwandern und dort übernachten will, sollte nicht zu lange rasten. Denn der Weg führt über den Passo delle Vacche (2872 m), viereinhalb Stunden auf anspruchsvollen Pfaden. Unweit des steinernen Rifugios befindet sich eine schindelgedeckte Kapelle, die Kriegsgefangene vor rund hundert Jahren erbauten. Andächtig wird man inmitten des Meeres aus Felsen, Gipfeln und Schneefeldern allemal.
Wanderungen am Lago di Bissina

Zwei Tage später starten wir zu einer neuen Wanderung: wieder am Lago di Bissina, aber diesmal Richtung Südwesten ins Daone-Tal, hinauf zum Passo di Campo (2295 m). Langsam steigt die Sonne über die Bergrücken und taucht die Hänge in mildes Licht. Nur ein Schäfer ist schonauf den Beinen und treibt seine Herde den blumenüberzogenen Wiesenhang in Richtung Lago di Campo hinauf. Sanft durchdringt das Läuten ihrer Halsglocken die Stille. Einige Wegbiegungen und Meter höher leuchten einem die kräftigen Farben des Sees entgegen – von tiefdunklem Blau über Grün bis zu hellem Türkis schillert das Wasser wie eine Pfauenfeder. An den Ufern schlummert die Ruine einer aufgegebenen Almhütte. Was für ein Ort! Die von Furchen durchzogenen Nordwände am Monte Re di Castello liegen noch im Schatten, unterdessen wärmen sich am Gegenhang Murmeltiere in der ersten Sonne des Tages. Jäh zerreißt ihr Warnpfiff den Frieden und lässt die Tiere binnen Sekunden in ihren Bauten verschwinden. Jakopo deutet hinauf zum Passo di Campo: Dort gleitet ein riesiger Steinadler nach Beute spähend über den Hang. Gut eine Stunde später steht man selbst am Pass auf der Grenze von Trentino und Lombardei und träumt davon, wie es wäre, jetzt Flügel zu haben. Doch auch mit ausreichend Bodenhaftung bieten sich rund um das Valle del Chiese außergewöhnliche Perspektiven. Immer wieder hat man die Möglichkeit, in größere Höhen vorzu-dringen, einfache Wanderungen zu fordernden Touren auszudehnen. So erreicht man vom Passo di Campo, einem Teilstück des Adamello-Höhenwegs folgend, nach weiteren sechzig Minuten das Rifugio Maria e Franco. Als suche es selbst Schutz in der Bergwildnis, drängt sich das Häuschen dicht an die Felsen des Monte Re di Castello (2889 m). Wer den Gipfel bezwingt, darf über sein Reich blicken, in dem sich alle »Hoheiten« des Adamello-Brenta-Massivs versammeln.
Ganz bescheiden versteckt sich dagegen der winzige Lago Maresse zwischen Val di Daone und Valle Aperta im Wald. Ein Bach speist den moorigen See, über dessen Wasser Libellen sausen. Oberhalb des Sees verläuft ein Pfad entlang der ehemaligen italienischen Front. Bei einer gut fünfstündigen Rundwanderung passiert man die vier Gipfel Pissola, Maresse, Clevet und Cingolo Rosso. Überreste von Mauern und Gräben führen einem das Schicksal tausender Soldaten vor Augen, die hier während des Ersten Weltkriegs unter widrigen Bedingungen ausharren mussten. Auch heute bläst auf dem schmalen Grat ein scharfer Wind, doch der Ausblick lässt noch einen Moment verharren: Weit schweift der Blick über das einstige Niemandsland zwischen den Fronten, über baumbestandene Hochebenen und Wiesenhänge, bis er abermals am Gletscher des Adamello hängenbleibt. Auf dem Rückweg beginnt es zu tröpfeln. Wie gut, dass in der Malga Baite Besucher willkommen sind. Im Inneren der nahe der Hochebene von Boniprati gelegenen Alm prasselt ein Holzfeuer im offenen Kamin. Über einer zweiten Feuerstelle hängt ein riesiger Kupferkessel, gefüllt mit mehr als 200 Litern Milch. Seit acht Jahren verbringen Maria-Teresa und ihr Sohn Daniel hier schon die Sommer. Und lieben es. Am schönsten, sagt Maria-Teresa, sei die Ruhe. »Das Leben auf der Alm ist etwas Besonderes «, fügt sie mit einem versonnenen Lächeln hinzu. Während draußen der Regen gegen das Fenster tropft, rührt Daniel beständig die Milch mit einem Holzquirl um, ehe er sie für eine Viertelstunde ruhen lässt. Dabei bildet sich die Käsemasse – ein weißlicher Klumpen, den Daniel von Hand komprimiert. In Stücke geschnitten, wird er in Formen gepresst, um dann für mindestens sieben Monate zu reifen. Und sein Geschmack? Der spiegelt, wie alle Kostproben im Valle del Chiese, das Wesen der Landschaft wider: natürlich und unverfälscht, hier und da etwas eigen, aber überaus empfehlenswert. Charakter statt Massenware. Ein Geheimtipp eben.
Reiseinfos, Übernachten, Erleben:
Hinkommen
Von München über die Brennerautobahn bis Ausfahrt Trento Nord/Centro, dann weiter Richtung Riva del Garda. Auf der SS 237 über Tione di Trento ins Valle del Chiese.
Herumkommen
Zwischen den größeren Ortschaften im Valle del Chiese verkehren Linienbusse (ttesercizio.it). Um die höher gelegenen Ausgangspunkte von Touren zu erreichen, sind Wanderer jedoch meist auf ein Auto angewiesen.
Orientieren
Kompass-Karten 71 Adamello, La Presanella und 071 Alpi di Ledro, Valli Giudicarie, Maßstab 1:50.000, 8,99/6,95 Euro.
Informieren Der Wanderführer "Die schönsten Wanderungen – Adamello und Presanella" enthält einige lohnende Touren im Val di Daone (Athesia, 14,90 Euro). Weitere Info über den Tourismusverband: www.visitchiese.it
Hotel
Das komfortable Drei-Sterne-Hotel Albergo da Emilio liegt im Zentrum der Ortschaft Bondo. Es bietet auch größeren Gruppen ausreichend Platz. Übernachtung mit Frühstück ab 32 Euro/Person. www.albergodaemilio.it
Bed & Breakfast
Die Villa Capraja nahe Daone war früher eine typische Almhütte, die mit viel Liebe, Traditions- und Umweltbewusstsein in eine behagliche Frühstückspension verwandelt wurde. DZ mit Frühstück ab 35 Euro pro Person, www.villacapraja.it
Camping
Camper finden Stellplätze für Zelt oder Wohnmobil auf einem überschaubaren Campingplatz in Baitoni di Bondone, direkt am Ufer des Idrosees. Zeltplatz für eine Person ab 13,50 Euro.
www.campingmiralago.it
*Seefisch, saisonale und regionale Küche
... sind die Spezialitäten in der Osteria Fra Dolcino. Der Keller des romantischen Gasthauses beherbergt außerdem eine ansehnliche Vinothek, in der man Weine verkosten kann. lalocandaborgoantico.com
Auf der Hochebene von Boniprati lohnt eine Rast im Rifugio Lupi di Toscana. Der Berggasthof serviert regionale Spezialitäten. Unvergesslich gut: die hausgemachten Steinpilzgnocchi. www.rifugiolupiditoscana.it
Polenta in vielen Variationen gibt es in der Polentera in Storo. Die Zutaten stammen aus der eigenen Landwirtschaft, zum Essen gibt es ausgewählte Trentiner Weine. www.lapolentera.it
Weitere Tipps:
Wer das Valle del Chiese aus der Vogelperspektive betrachten möchte, bucht einen Tandemflug mit dem Gleitschirm. Wenn es das Wetter zulässt, sind Flüge an allen Wochentagen möglich. Mit Video ab 120 Euro.
Zahlreiche Granitblöcke bilden im Val di Daone ein ideales Revier für Boulderer mit unterschiedlicher Erfahrung. Der Führer Daone Prog von Stefano Montanari stellt das Gebiet ausführlich vor (Edizioni Versante Sud, 24,50 Euro).
Mountainbiker kommen auf einer Rundtour von Roncone über die Malga Avalina auf ihre Kosten. Dort bewältigt man über 1400 Höhenmeter. Auch gemütlichere Touren finden sich rund um das Valle del Chiese. Radverleih zum Beispiel in Storo: Pasi Bike.
Das Museum Casa Marascalchi in Cimego präsentiert originalgetreu eingerichtete Bauernzimmer. Es vermittelt eine Vorstellung davon, wie die Menschen der Bergregion lebten und arbeiteten (comune.cimego.tn.it).
Vom Parkplatz unterhalb der Malga d’Arno lohnt ein halbstündiger Spaziergang zum eindrucksvollen Wasserfall Cravatta. Am besten zu einem zweistündigen Rundweg über die Malga Maggiasone ausbauen.