Am Morgen liegt Nebel über den Weiden rund um das Dorf von La Palud. Die feuchte Ebene auf gut 1000 Meter Höhe entlässt den Tau in einen klaren Himmel, der einen schönen Tag ankündigt. Trotz der Nähe zur Côte d’Azur ist es frisch in der Haute-Provence, dem Hinterland von Nizza. Die Sonne steigt auf und wir tun es ihr gleich, zumindest aus dem Bett und auf den allmorgendlichen Gang hinüber zur Bäckerei und Joes kleinem Café am Dorfplatz.
Es sind gemütliche Morgen hier in La Palud-sur-Verdon. In den 80er Jahren galt der Ort als Kletterhotspot Europas. Waren es Ende der 60er Jahre noch gestandene Alpinisten wie François Guillot, die Erstbegehungen wie etwa La Demande aus dem Schluchtgrund starteten und logischen Risssystemen bis hinauf folgten, kamen in den 70ern sportlich orientierte Kletterer und begannen, Routen auf eine Weise einzurichten, die maßgeblich werden sollte. Statt von unten hinauf einen Weg durch die Wände zu suchen, seilten sie sich vom Schluchtrand ab und begannen mithilfe von Bohrhaken Standplätze in eigentlich unzugänglichen Wandbereichen einzurichten.
Zum Grauen der Alten wurden erste Routen wie etwa 1978 Dingomaniaque von oben eingebohrt und der Untergang des Alpinismus hielt auch in Südfrankreich Einzug. Und der Stil machte Schule. Berufserschließer wie die Rémy-Brüder begannen, das "Yosemite für Arme" zu entdecken, wie Claude Rémy die bis zu 700 Meter tiefe, 25 Kilometer lange Schlucht zwischen dem Lac de Sainte-Croix im Westen und Castellane im Osten mal etwas despektierlich bezeichnete. Systematisch widmeten sie sich zunächst den steilsten und imposantesten Abbrüchen der Schlucht, die als Ganzes den Namen "L’Escalès" tragen und zwischen den Aussichtspunkten Belvédère de Trescaïre Haut und Belvédère de l’Escalès viele Sektoren beheimaten, die bis heute symbolisch mit der Verdonschlucht verbunden werden. Auch die Rémys begannen grundsätzlich von oben und führten ihre Routen nur so weit nach unten, wie es die Felsqualität zuließ. Ganz im Sinne des aufkommenden Sportklettergeistes erschlossen sie Routen nicht mehr über mobil absicherbare Wandstrukturen, wie etwa Risse oder Verschneidungen, sondern folgten dem besten Fels.
Belvédère de la Carelle als Ausgangspunkt
Der Zugang von oben ist bis heute Standard geblieben. Wir haben nach unserem Frühstück unter der großen Platane Kraft gewonnen, die Sonne mittlerweile ebenso. Von La Palud bringt uns eine kurze Fahrt Richtung Osten hinauf zur Route des Crêtes und an den Parkplatz des bekanntesten Aussichtspunkts Belvédère de la Carelle, der Ausgangspunkt für viele Klassiker und auch unsere heutige Route. Neugierig lehnen die Touristen mit ihren Kameras an den Geländern. Die meisten halten Ausschau nach den Gänsegeiern, die hier bis auf wenige Meter an einen heran fliegen. Wir packen unsere Sachen und nehmen die Halbseile auf den Rücken. Das meiste findet am Gurt Platz.
Flip-Flop besohlt überqueren wir die Straße zum Abseilstand von Rêve de Fer (6b+, 130 m). Die Seile werden eingehängt, die Flip-Flops dürfen oben stehen bleiben; wir brauchen sie hier nicht mehr. Vor dem Abseilen checken wir nochmal alles durch: Helm, Gurt, Kletterschuhe, Wasser, Windjacke und kleines Medikit. Die Exen, drei kleine Friends als Backup. Der Gurt ist zu, Prusik sitzt, Tube ist richtig eingelegt. "Knoten im Seilende sind auch drin?" "Ja, sind drin." – "Perfekt. Na dann, viel Freude. Und bis gleich." Das erste Abseilen des Tages. Wem hier nicht für einen ganz kleinen Moment das Herz stehen bleibt! Der Schritt hinüber in die Haltlosigkeit, hinaus in eine scheinbar endlose Wandflucht, in 300 Meter Tiefe, denn: kein Band, kein Baum, kein Absatz stört hier den Sog des Nichts.
Aber nur ruhig. Deswegen sind wir doch gekommen. Wegen der Luft unter den Füßen, die ist gut für die Seele. Da runter wollen wir, und zwar nur, um wieder hinaufklettern zu dürfen. Sicher, das ist absurd. Aber wir suchen ja hier nicht nach Sinn, wir suchen hier nach Auseinandersetzung. Mit dem Fels, mit der Exposition, mit uns. Bis zum ersten Abseilstand in der Wand bleibt die Sache noch eine sichere Nummer, schließlich hängt unser Seil noch oben auf Straßenniveau. Erst nach dem Abziehen beginnt das Abenteuer. Denn jetzt müssen wir wieder hinausklettern, jetzt ist oben die einzige Richtung.
Viele der Routen beginnen irgendwo in der Wandmitte und führen nicht in den Schluchtgrund. Häufig fehlt eine Abseilmöglichkeit bis nach ganz unten. Und wenn doch, stünde ein langer Marsch in Kletterschuhen bevor. Wir atmen tief, aber ruhig, kurzer Partnercheck, ein High Five und auf in die erste Bewegung, die immer ein wenig zu eilig, zu hektisch ist, da sich die Konzentration erst gegen die Mischung aus Glück und Unruhe durchsetzen muss. Mit jedem Atemzug stellt sich größere Ruhe ein, die Aufmerksamkeit zentriert sich auf den kleinen Bereich in und um einen selbst. Gestern und morgen gibt es nicht mehr, die Gegenwart beginnt. Die Bewegungen werden flüssiger, der Fels gibt sie vor, doch die kreative und kraftsparende Ausführung ist einem selbst überlassen. Dort, wo es spannend wird, hört das Klettern auf, eine bloße Bewegung in der Natur zu sein.
Atmen, atmen, Kontrolle der Emotionen und Gedanken, Hände sortieren, Fuß setzen … und rauf da! Es ist nicht das ekstatisch-rauschhafte Glück, mit dem man ein Sportkletterprojekt beendet. Es ist kein Schreien vor Glück, nichts Haltloses, das sich Bahn brechen muss, wenn der letzte Stand geclippt und der Partner ein letztes Mal nachgeholt wird. Es ist ein ruhiges Glück, das unterschwellig arbeitet, das tief geht und sich festsetzt. Ein Glück, das lange begleitet.

In Hissage Nocturne (6a+,100 m) schimmert tief untender Lac de Sainte-Croix.
Schrittweise Annäherung
Den intensiven Erfahrungen in den klassischen Routen nähert man sich am besten etappenweise. Zwar ist der Verdon für seinen ernsten Stil bekannt, doch wurden in den letzten Jahren auch viele Routen erschlossen, die weit weniger Engagement verlangen, dichter gesichert sind und mitunter sogar von unten erreicht werden können. Auf Höhe des Chalet de la Maline zum Beispiel führt ein guter Fußweg hinab in den Schluchtgrund und zum Sektor Moyen Eycharme. Die Touren Free Tibet (6a, 100 m) und Redressement Discal (6b, 100 m) sind ein hervorragender Einstieg in das Klettern verdonesque.
Viel Ambiente bei moderaten Graden und dichter Hakensetzung bietet der Sektor Adieu Zidane, der einen direkt über den Schluchtausgang und den Lac de St. Croix führt. Unter den Kletterschuhen funkelt türkisblau der Verdon und mit bunten Booten paddeln die Touristen über den See.
Die Touren Adieu Zidane (6a, 100 m) und Hissage Nocturne (6a+, 100 m) bieten Holiday-Klettern par excellence. Wer das klassische Verdon-Feeling, jedoch auch reichlich Bohrhaken und gängige Schwierigkeitsgrade sucht, wird im klassischen Sektor Dalles Grises fündig. Ab dem Belvédère de la Carelle sind es nur ein paar Minuten zu den gemütlichen Abseilständen oberhalb der mit Rissen und Löchern durchzogenen Platten. Vier Abseilfahrten bringen einen hinunter in den Jardin des Écureuils, ein kleines Wäldchen mitten in der Wand.
Von dort aus gibt es viele Möglichkeiten, wieder hinauszuklettern – und nahezu jede lohnt. Von den gängigen Routen wie etwa Chlorochose (5c, 150 m) oder Dalles Grises (5c, 150 m) über ambitioniertere Linien wie À Tout Coeur (6b+, 150 m) hin zu Klassikern wie Dingomaniaque (6c+, 150 m) oder der oberen Hälfte von Pichenibule (6c+/A0 (7c), 200 m).

Die Hulk-Grotte bietet steiles und schattiges Sportklettern vom Feinsten.
Die Abenteuer des Tages
Am Abend sitzen wir wieder in La Palud, diesmal bei Lou, dessen Bar seit den 80ern Treffpunkt der Kletternden ist. Hier werden die Abenteuer des Tages geteilt, Alleinreisende finden sich zu Seilschaften zusammen, Topos zu Neutouren machen die Runde, alte Schluchtgeschichten werden erzählt. Es ist nicht viel los an diesem Abend im Oktober. Europas Kletterhotspots liegen mittlerweile woanders, die Szene zog weiter, Mehrseillängenrouten stehen nicht mehr so hoch im Kurs. Viele von Lous Gästen kennen einander. Und kommt man neu und noch etwas schüchtern dazu, wird man rasch bekannt gemacht.
Wir werden vom Nebentisch angesprochen: "Und, was habt ihr heute gemacht?" "Rêve de Fer. Ganz schön exponiert." "Ah, ihr wart das. Wir haben euch beim Abseilen gesehen. Ja, Rêve ist einer der ganz großen Klassiker. Wir waren in Les deux doigts dans le nez. Soll 6a+ sein, ganz schön hart für den Grad ..." Und so weiter. Es ist ein gemütliches Zusammensitzen, schließlich haben alle hier morgen dasselbe Ziel: Abenteuerklettern. Vielleicht ist es gerade dieses ruhige Glück, das La Palud und den Verdon heute noch zu einem lohnenden Ziel für alle macht, die jene Mischung suchen, die sich so wohl nirgends sonst findet: nämlich das Abenteuer verbunden mit äußerer Gemütlichkeit.
Routentipps
Zum Einstieg: Sektor L’Herbetto
L’Herbetto (4b, 10 Sl, 180 m)
Zugang: Zu Fuß absteigend
Besonderheiten: Die leichteste Route aus der Schlucht hinauf. Sehr gut gesichert.
Zum Einstieg: Sektor Adieu Zidane
Fièvre résurectionelle (5c, 4 Sl, 100 m), Adieu Zidane (6a, 5 Sl, 100 m), Hissage Nocturne (6a+, 9 Sl, 100 m)
Zugang: Abseilend
Besonderheiten: Herrliches Ambiente mit türkisblauem Wasser direkt unter den Füßen. Schluchtauswärts, am Beginn des Lac de St. Croix. Die Routen sind gut gesichert und trotz Abseilfahrt weniger ernst.
Zum Einstieg: Sektor Moyen Eycharme
Free Tibet (6a, 5 Sl, 100 m) Redressement Discal (6b, 6 Sl, 100 m)
Zugang: Zu Fuß absteigen ab Chalet de la Maline
Besonderheiten: Hervorragender Sektor für alle, denen das Abseilen nicht geheuer ist.
Ambitionierter: Sektor Falaise de Belvédère
La Voie de Dalles (5c+, 9 Sl, 250 m), L’Arête de Belvédère (6a+, 8 Sl, 250 m)
Zugang: Anspruchsvoll zu Fuß absteigend und kletternd (II)
Besonderheiten: Sehr beliebte längere Routen in moderaten Graden und wildem Ambiente in einem der engsten Bereiche der Schlucht
Ambitionierter: Sektor Dalles Grises
Les Dalles Grises (5c, 6 Sl, 150 m), Chlorochose (5c, 6 Sl, 150 m), Afin que Nul ne Meure (6a+, 5 Sl, 150 m), À Tout Coeur (6b+, 7 Sl, 150 m) Dingomaniaque (6c+, 7 Sl, 150 m), Pichenibule (6c+/A0 (7c), 200 m)
Zugang: Abseilend
Besonderheiten: DER klassische Sektor für das typische Verdon- Feeling in Kombination mit gemäßigten Schwierigkeitsgraden. Hier ist immer etwas los, was auch der mitunter recht gebrauchte Fels bezeugt.
Anspruchsvoll: Sektor Ticket Danger
Ticket Danger (6c, 8 Sl, 200 m)
Zugang: Abseilend
Besonderheiten: Abseilfahrt direkt unterhalb des Geländers von »La Carelle«. Neugierige Zuschauer sind in den obersten Seillängen garantiert.
Anspruchsvoll: Sektor Muab
Encortoujourjamé (6b+, 7 Sl, 150 m), Les deux doigts dans le nez (6a+, 6 Sl, 150 m)
Zugang: Abseilend
Besonderheiten: Hier beginnen die nicht zu unterschätzenden Routen mitten in der Wand. Herzklopfen im Angesicht der Tiefe garantiert!
Sportklettern
Rund um La Palud lässt sich ebenfalls hervorragend Sportklettern. Hier seien vor allem das 2,5 Kilometer westlich vom Ort gelegene Vallon de Mainmorte mit zwölf eigenständigen Sektoren erwähnt, sowie die riesige Hulk-Grotte tief unten in der Schlucht. Letztere liegt ganztägig im Schatten und ist somit eine ideale Ausweichmöglichkeit bei großer Hitze.
Weitere Infos zum Klettern in der Verdonschlucht
Anreise: Mit dem Auto von Deutschland aus am besten durch die Schweiz (Vignette ca. CHF 40,-) bis nach Genf und anschließend über Grenoble und Sisteron bis Manosque. Dann auf der Landstraße in etwa 80 Minuten über Moustiers- Sainte-Marie nach La Palud. Für einen normalen PKW ist auf den französischen Autobahnen mit etwa 35 € Mautgebühren zu rechnen. Fährt man die gesamte französische Strecke über Landstraßen, spart man sich die Maut, verlängert die Fahrtzeit jedoch um zwei bis drei Stunden. Mit ÖPNV: Es ist möglich, mit dem Zug bis Aix-en-Provence und dann mit einem Bus nach Riez (35 km entfernt von La Palud) anzureisen. Zwischen Riez und Castellane fährt mindestens zweimal täglich ein Bus der Linie 450, der auch in La Palud hält; in der Hauptsaison auch häufiger. Die Ausgangspunkte der Routen sind jedoch bei einer Unterkunft in La Palud nur durch sehr langen Fußweg (1,5 bis 2,5 Std.) zu erreichen. Mit dem Fahrrad (von April bis Oktober in La Palud ausleihbar) gelangt man nach sechs Kilometern und 200 Höhenmetern an den oberen Schluchtrand.

Frühaufstehen lohnt auch, wenn es nicht notwendig ist, hier am Belvédère Pas de la Bau.
Beste Zeit: Zwischen Ende März und Juni sowie September bis November. Die meisten Sektoren sind nach Süden ausgerichtet, im Hochsommer wird es zu heiß.
Unterkünfte:
- Der Camping Municipal – Le Grand Canyon öffnet von April bis Oktober und liegt 800 m vom Ortskern von La Palud.
- Ebenso in La Palud: Camping Bourbone, April bis Oktober.
- Le Perroquet Vert, das Kletterhostel von La Palud, Ende März bis Mitte November.
- Gîte l’Arc-en-Ciel; Place de l‘église mit Restaurant, Ende März bis Mitte November.
Bars & Restaurants: Lou Cafetié, täglich von 8–24 Uhr, DER Treffpunkt für kletternde Gäste seit den 80er Jahren. Hier lernen sich Seilschaften kennen, tauschen Infos aus. Chez Joe, täglich von 6–21:30 Uhr (außer Dienstag), Frühstückscafé, Snackimbiss und Burgerrestaurant in La Palud. La Capanna, kleine Pizzeria in einem Anhänger am zentralen Platz von La Palud. Hervorragende und kreative Pizza zu fairem Preis.
Kletterführer: Le Verdon 2022 (auf Französisch) ist der vollständigste Kletterführer für die Schlucht, er beinhaltet auf über 400 Seiten die meisten Touren auf der linken Schluchtseite sowie ausgewählte Bereiche der rechten Schluchtseite. Überall im Dorf erhältlich. Verdon Inte‘Graal, Französisch/Englisch, 500 Seiten Auswahlkletterführer von Verdon-Hausmeister Bruno Clément. Nicht immer perfekt gezeichnet, jedoch mit kurzen Charakterisierungen der jeweiligen Touren. Für über die Kletterführer hinausgehende Informationen eignet sich camptocamp.org. Die meisten Routen sind dort sehr genau beschrieben.
Material: Übliches Material für gebohrte Mehrseillängenrouten, 60-m-Halbseile, evtl. ein Set kleine Friends zur Verbesserung mancher Hakenabstände (BD C4 0,3 bis 0,5. Auch ein sehr kleiner Totem 0,5 leistet gute Dienste).