Elbsandstein – die Wiege des Freikletterns

Geschichte des Kletterns
Elbsandstein – die Wiege des Freikletterns

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Zuletzt aktualisiert am 09.05.2008

Wer am Wochenende an einem der deutschen Kletterfelsen vorbei kommt, wird ebenfalls Kletterer beobachten können, die frei klettern. Die Idee, sich nur mittels der eigenen Kraft und Fähigkeiten an den naturgegebenen Strukturen einer Felswand in die Höhe zu arbeiten und das Seil nur zur Sicherung zu verwenden, hat sich weltweit durchgesetzt, das Freiklettern ist der international vorherrschende Kletterstil. Dass dieser Stil schon vor über 130 Jahren an den Gipfeln des Elbsandsteingebirges erfunden wurde und von dort aus seinen Siegeszug angetreten hat, wissen allerdings die wenigsten.

Südöstlich von Dresden, nahe der deutsch-tschechischen Grenze, erheben sich entlang der Elbe über 1000 freistehende Sandsteintürme in den Himmel. Die kompakten, schwarzen oder grau-gelben und bis zu 100 Meter hohen Wände wirken auf den ersten Blick unstrukturiert glatt bis auf die großen Risslinien, die die einzigen natürlichen Schwachstellen in diesen Mauern zu sein scheinen.

Video: Klettern im Elbsandstein

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Bewusster Verzicht auf Hilfsmittel

KL Silhouette Brosinnadel Elbsandstein
Robert Hahn

Es überrascht kaum, dass diese gewaltigen Felsen und die romantische Landschaft schon sehr früh Kletterer angezogen haben und sich die Region bald zum bedeutendsten Klettergebiet Deutschlands entwickelte.

Der Reiz des Kletterns im Elbsandsteingebirge hat nicht nur mit seiner landschaftlichen Schönheit, sondern auch viel mit seiner Geschichte zu tun. Im Jahr 1874 erstieg Otto Ufer den Gipfel des Mönch in freier Kletterei – er verzichtete auf Leitern, geschlagene Griffe und Tritte und was sonst in jener Zeit noch an Hilfsmitteln üblich war, nur um auf einen Gipfel zu kommen. Sein bewusster Verzicht auf diese Hilfsmittel markiert den Beginn dessen, was wir heute als Freikletterei verstehen.

Elbsandstein – Der erste Ring

Rund 30 Jahre später, kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts, zählt man in der Sächsischen Schweiz bereits 500 aktive Kletterer. Einer von ihnen ist Rudolf Fehrmann, der in mehrfacher Hinsicht Klettergeschichte schrieb: 1905 schlug er bei der Besteigung des Großen Wehlturms erstmals einen Ring (ein gebohrter Haken mit einem Ring als Öse) zur Zwischensicherung in die Wand. Daraus ergab sich in Klettererkreisen die Diskussion darüber, wie solche Ringe eingesetzt werden dürfen, was noch als sportlich einwandfreie Begehung gelten kann und was als Einsatz künstlicher Hilfsmittel anzusehen ist.

Die Diskussion mündete in Regeln, die Rudolf Fehrmann 1913 in einem Nachtrag zu seinem Kletterführer der Sächsischen Schweiz – 1908 veröffentlicht war es der vermutlich erste Mittelgebirgskletterführer der Welt – schriftlich fixierte. Darin hieß es unter anderem, dass Zwischensicherungen ausschließlich zu Sicherung und NICHT zur Fortbewegung benutzt werden dürfen und dass Ringe nur frei stehend zu schlagen sind. Die erste Regel hatte bis heute Bestand und ist die Definition des Freikletterns. Beim Schlagen der Ringe wurden später, als die Kletterer in immer glättere Wände vordrangen, die Regeln etwas ausgeweitet: Seit den 60er-Jahren dürfen Ringe auch in einer Schlinge sitzend geschlagen werden, seit den 90er-Jahren ist auch der Einsatz eines Skyhooks (Cliffhanger) erlaubt.

1913 war im Übrigen auch das Jahr, in dem der Karabiner in Sachsen eingeführt wurde. Bis dahin hatte man sich in der Wand stehend an den Sicherungsringen ausgebunden, das Seil durch den Ring gefädelt, und dann wieder eingebunden. Ein heute völlig unvorstellbarer Gedanke.

KL Falkenstein Elbsandstein
Helmut Schulze

Vorsprung statt Technik

KL Partisanenhangel Elbsandstein
Robert Hahn

Als Reinhold Messner in den 80er-Jahren das Bergsteigen "by fair means" propagierte, vertrat er im Grund die gleiche Idee, die Otto Ufer über 100 Jahre zuvor in die Welt gesetzt hatte: Nicht die Technik, sondern der Mensch soll sich in der Natur der Felsen und Berge behaupten. Den Elbsandsteinkletterern bescherte diese sächsische Kletterethik einen gewaltigen Vorsprung in Sachen Klettertechnik und Entwicklung des eigenen Kletterkönnens.

Vergleicht man die gekletterten Schwierigkeiten, so gab es 1965 in Sachsen die erste Route im unteren achten Grad (nach heutiger UIAA-Bewertung) – da baumelten die Alpinisten Westeuropas noch mit dicken Stiefeln in den Trittleitern. Der glatte siebte Grad wurde im Elbsandstein schon 1922 geklettert – 55 Jahre bevor Helmut Kiene und Reinhard Karl die Pumprisse (UIAA 7) im Wilden Kaiser eröffneten und damit erstmals den Mut hatten, eine Route auch offiziell schwerer als 6+ zu bewerten. Im Jahr der Erstbegehung der Pumprisse, 1977, eröffnete Bernd Arnold am Großen Wehlturm bei Rathen mit der Direkten Superlative bereits die erste Route im UIAA-Grad 8+. Und im gesamten Gebiet gab es zu diesem Zeitpunkt schon über 400 Routen im siebten und über 50 bis zum glatten achten UIAA-Grad.

Selbst Ausnahmeathlet Alex Huber, der fast jede Art der Kletterei beherrscht, hatte 2007 in der Nordverschneidung am Mönch ganz schön zu kämpfen. Dabei stammt die Route, mit UIAA 7 bewertet, aus dem Jahr 1924. Es gibt keinen Zweifel: Die Sachsen konnten schon damals richtig gut klettern.

KL Teufelsturm Elbsandstein
Robert Hahn

Elbsandstein – Die Eroberung der Kletterwelt

Dass die sächsische Idee des Freikletterns sich schließlich weltweit durchsetzte, hat verschiedene Gründe. Zum einen wanderte 1929 der Dresdner Spitzenkletterer Fritz Wiessner in die USA aus und brachte im Reisegepäck auch die sächsische Kletterethik mit. Wiessner stieg in der amerikanischen Kletterszene schnell zu einer bedeutenden Rolle auf. Er nahm nicht nur an amerikanischen Expeditionen zum Nanga Parbat und zum K2 teil (wo er ohne künstlichen Sauerstoff, den er aus sportlichen Gründen ablehnt, eine Höhe von 8400 Metern erreicht), er eröffnete auch in den USA zahllose Routen und entdeckte neue Klettergebiete, die er in Anlehnung an die Kletterregeln seiner alten Heimat erschloss. Die amerikanische Kletterszene übernahm schließlich viele seiner Ideen. Aus dem kalifornischen Yosemite brachten sie Besucher später wieder zurück nach Europa.

KL Schlingenrack Elbsandstein
Robert Hahn

Aber auch in Europa selbst befruchtete das Sächsische Freiklettern in den 70er-Jahren die Kletterszene. Westeuropäische Besucher des Elbsandsteins wie der Nürnberger Kurt Albert oder der Franzose Jean-Claude Droyer fuhren tief beeindruckt nach Hause und begannen an ihren Felsen ebenfalls mit dem freien Klettern. 1975 erfand Kurt Albert dann den roten Punkt, mit dem er frei gekletterte Routen im Frankenjura kennzeichnete. Der zugehörige Kletterstil, "Rotpunkt", ging dann in einem Punkt etwas über die sächsischen Kletterregeln hinaus: Im Elbsandstein durfte an den Ringen geruht werden – wegen der oft sehr kühnen Kletterei mit weiten Abständen zwischen den Sicherungen brauchte man die Ruhepunkte nicht nur für die dicken Arme, sondern auch für den Kopf. Beim Rotpunktklettern dagegen muss eine Route vom Einstieg bis zum Ende ohne Ruhen durchstiegen werden. Dies ist heute der weltweit vorherrschende Stil beim Freiklettern und gilt inzwischen auch im Elbsandstein als Ideal.

Die Felsen des Elbsandsteingebirges haben sich seit den Anfängen vor rund 130 Jahren zu Europas größtem Freiklettergebiet entwickelt. An den exakt 1106 fürs Klettern freigegebenen Gipfeln existieren derzeit rund 20.000 Routen von sehr leicht bis extrem schwierig. Die sächsischen Kletterregeln sind inzwischen über das Naturschutzgesetz zu Gesetzesrang aufgestiegen. Sie sorgen dafür, dass das Gebiet als relativ kühnes Klettergebiet in seiner ursprünglichen Form erhalten bleibt. Fairerweise muss man anmerken, dass das moderne Sportklettern, bei dem es um höchstmögliche Schwierigkeiten bei optimaler Absicherung geht, hier nur begrenzt stattfindet. Doch die sächsische Ausprägung des Freikletterns hat uns im Elbsandstein eine Vielzahl eindrucksvoller Kletterwege beschert, bei denen das Gesamterlebnis ungleich höher ist als bei vielen genormten Sportkletterrouten. Es ist ein anderes Klettern, ein eigenes Klettern, eines, das man nicht so schnell vergisst.