Berner Alpen: Skitour auf der Äbeni Flue

In den Berner Alpen - Skitour über dem Eis auf der Äbeni Flue
Äbeni Flue: Hochalpine Skitour in der Schweiz

Zuletzt aktualisiert am 29.10.2014

Flory hält eine Hand an die Kochplatte des alten Holzofens. "Noch warm", sagt er. Eine gute Nachricht, die Unterkunft ist vielleicht nicht ganz ausgekühlt. "Und eine Flasche Wein ist auch noch da", sagt Ben, der den Vorratsschrank inspiziert. Einen Holzscheit später macht sich in der kargen Unterkunft inmitten der Unwirtlichkeit der Schweizer Jungfrauregion so etwas wie Behaglichkeit breit.

Drei Tische und ein Matratzenlager für acht Personen bietet der Winterraum der auf 3200 Metern gelegenen Hollandia Hütte seinen Gästen. Wie eine Burg wacht sie über der Lötschenlücke. Dieses 3173 Meter hohe Joch überschreiten Skitourengeher auf ihrem Weg vom Langgletscher im Lötschental auf den Großen Aletschfirn. Nur sieben Kilometer unterhalb der Hütte, am Konkordiaplatz, treffen die Ströme des Aletsch-, Jungfrau- und Ewigkeitsfirn zusammen und ergießen sich von dort als Großer Aletschgletscher ins Rhone-Tal.

Tagelange Skidurchquerungen kann man in der Eiswüste unternehmen, doch die drei Männer auf der Hollandiahütte streben nach Höherem. Morgen wollen sie auf die Äbeni Flue. 3962 Meter erhebt sich der Berg am Nordtrauf der Gletscherwelt, den Kamm teilt er sich mit Eiger, Mönch und Jungfrau sowie Gletscher- und Mittagshorn. Prominenter kann die Nachbarschaft in den Alpen kaum werden. Doch noch sind Ben, Flory und Jochen nicht oben. Noch trennen das Trio und den Gipfel 800 Höhenmeter – und eine unruhige Nacht. "Wenn du auf dieser Höhe nicht akklimatisiert bist und nachts zum Pinkeln aufstehst, schnaufst du so, als ob du eine Runde Joggen warst", wird Ben nach der Tour berichten.

Schwerer noch als der Gang zur Toilette fällt das Aufstehen. Kälte umfängt die Bergsteiger vor der Hütte. Ein eisiger Hauch kündet von der Gegenwart des Aletschfirn, der rechts unter den Skitourengehern im Dunkel liegt. Schweigend bewegt sich die Seilschaft durch die Flanke oberhalb des Gletscherbruchs. Die Ski schieben sich Schritt für Schritt nach vorn, unter der Schläfe hämmert der Puls, trotz Kälte bildet sich ein feiner Schweißfilm auf der Stirn. Wie Irrlichter tanzen die Kegel der Stirnlampen auf dem Eis und über den Rücken des Vordermannes. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt, verbunden mit dem anderen nur durch ein paar Meter Seil.

Irgendwann rötet der erste Sonnenstrahl die Bergspitzen. Immer gleißender wird der Schein, immer tiefer kriecht das Licht in die dämmergrauen Schneehänge, immer mehr werden die drei Männer gewahr, in was für einer Umgebung sie sich befinden. Unter ihnen wälzt sich der Große Aletschfirn Richtung Konkordiaplatz, an seinen Rändern türmt sich der Fels von Aletschhorn, Grünhorn und den Fiescherhörnern. Ein Anblick, wie man ihn eher in Grönland oder im Karakorum erwartet. Gut drei Stunden dauert der Aufstieg, in denen die Tourengeher Teil dieses Schauspiels in Blau, Weiß und Gold werden, dann kommt der Gipfelmoment.

Manche Bergsteiger geraten ins Schwärmen angesichts der Erhabenheit von Panoramen, andere sind prosaischer: "Auf der Äbeni Flue ist es wie bei jedem Berg, man ist erst einmal froh, dass man oben ist", sagt Ben über die Tour und fügt hinzu: "Dann schaut man in ein riesiges Loch." Er meint damit, dass die Nordwand der Äbeni Flue nach Norden hin über 2500 Meter abfällt. Dahinter dehnt sich die Schweiz, Anfang Juni längst in Grüntönen. Nach ein paar Minuten auf dem Gipfel streift Flori Kern die Daunenjacke über. Minus 10 Grad zeigt die Berguhr an. Ben ist der Erste, der seine Klebefelle im Rucksack verstaut und nach unten deutet. "Weshalb sind wir denn hier oben?" fragt er in die Runde. Genau, damit man wieder hinabfahren kann. Und das dauert von der Äbeni Flue über vier Stunden – ein Traum in Weiß. In der Flanke oberhalb des Gletschers stiebt der frische Schnee bei jedem Schwung, jeder sucht sich selbst die für ihn passende Hangneigung. Am Gletscher dann ist Vorsicht geboten. "Dort, wo es steiler wird, lauern die meisten Spalten", sagt Flory. Doch noch am Vormittag erreichen sie wohlbehalten die Hollandiahütte. Tief unten im Tal blitzt das Grün des Frühsommers hinauf. Doch bis dahin sind es noch zwei Stunden Abfahrt im Neuschnee.