Der belgische Kletterer Klaas Willems trotzt einer unheilbaren Krankheit: Mukoviszidose. Mit halber Lungenkapazität klettert der unermüdliche Erstbegeher indes 8c und schwerer. Ein Gespräch über das Klettern als Lebenselixier.
Interview mit dem Kletterer Klaas Willems
Wenn ich das richtig verstanden habe, lebst du schon 10 Jahre länger, als dir prognostiziert wurde?
Das stimmt. Jetzt bin ich 35. Zu meinem 30. Geburtstag habe ich ein Buch geschenkt bekommen, darin stand: "Dafür, dass du seit fünf Jahre abgelaufen bist, siehst du echt noch gut aus!" (lacht) – aber die Ärzte sagen natürlich nicht, dann und dann wirst du sterben. Sie sagen: Der statistischen Wahrscheinlichkeit nach wirst du dieses und jenes Alter erreichen. Als ich 20 war, war das 25. Mein ganzes Leben habe ich gedacht, mit Mitte zwanzig war es das. Als ich 25 wurde, wurde ich dann kurzzeitig depressiv. Weil ich nicht wusste, was ich jetzt mit mir anfangen sollte. Es war seltsam, immer auf diesen Termin hinzuleben, das ist vielleicht auch schwer zu erklären. Aber du denkst dein ganzes Leben lang, da wirst du sterben, und dann passiert das nicht. Das ist vielleicht sogar so wie andere Menschen, die die ganze Zeit davon ausgehen, dass sie ewig leben, und es dann doch nicht tun. Nur anders herum. Klar ist das eigentlich gut, aber es war seltsam und schwierig, damit zurechtzukommen.
Rührt aus dieser Zeit der Name 'Still alive' von deiner Erstbegehung hier in Ulassai?
So ungefähr. Mit dem Einbohren begonnen habe ich, als ich zum ersten Mal hier war, 2012. Damals war die Route für mich noch zu schwer, und ich bat meinen Freund Matteo, mir das Projekt freizuhalten. Als ich dann die zweite Krebserkrankung überlebt hatte, motivierte mich die Linie, zu trainieren und an meinem Zustand zu arbeiten. 2017 konnte ich sie erstbegehen und damit meine erste 8c vollenden. Der Name bot sich an.

Zusätzlich zur Mukoviszidose hattest du zwei mal Krebs?
Ja, als ich 15 war und als ich 26 war. Beim zweiten Mal war ich mit meinem Vater Alpinklettern gegangen und dachte, dass ich meinen Herzschlag die ganze Zeit höre wegen der Höhe. Beim nächsten Checkup entdeckte man dann einen Tumor im Brustkorb, so groß, dass mein Herz nicht ausreichend Platz zum Schlagen hatte. Das Problem ist: Wenn man chronisch krank ist, dann merkt man nicht, dass es einem schlecht geht, weil es einem irgendwie immer schlecht geht. Wäre ich also nicht zum regulären Lungenscan für die Mukoviszidose gegangen, wäre ich vermutlich an einem Herzinfarkt gestorben. Man gewöhnt sich an diese Rückschläge. Nach dem Lymphknotenkrebs ging es meinen Lungen wieder schlechter, und mental war ich auch am Ende. Also bin ich für einen Monat mit Freunden in die Türkei nach Geyikbayiri zum Klettern gegangen und konnte mich zurück auf 8a steigern. Ich dachte, ich bin auf einem guten Weg. Doch nach dem Monat hatten meine Lungenwerte sich nur um ein Prozent gebessert, weil ich zu viel Gas gegeben hatte. Ich hatte mich nicht um meinen Körper gekümmert, sondern wollte einfach nur klettern. Als meine Lungenfunktion immer noch bei nur 50 Prozent lag, bekam ich eine Krise. Die Ärzte sagten, dass die Chemo und Bestrahlung die Lunge stark beschädigt und vernarbt hätten, das sei kaum reparabel. Erst war ich ziemlich fertig. Dann ging mir irgendwann auf: 50 Prozent Lungenkapazität ist nicht großartig, aber auch nicht superschlecht. Im Krankenhaus musste ich nur auf den Flur schauen, um Menschen mit nur 20 Prozent an einer Maschine zu sehen. Dann bekam ich Unterstützung mit einem Trainingsprogramm und begann, an meiner Form zu arbeiten: Meine Kraft war gut, aber ich hatte null Ausdauer. Mein Puls ging bei der geringsten Anstrengung durch die Decke. Mit etwas Training war ich dann bei meinem alten Level und sogar besser, meine Lungenkapazität konnte ich auf 65 Prozent steigern.
Und damit kletterst du jetzt?
Ja. Letztlich ist das Klettern der Grund, weshalb ich noch lebe.

Wie meinst du das?
Es gibt verschiedene Wege, mit einer dauernd lebensbedrohlichen Krankheit umzugehen. Meine Schwester wollte nicht darüber nachdenken. Sie glaubte fest daran, dass sie alt werden würde. Sie wollte ein halbwegs normales Leben führen. Bei mir sah es anders aus: Als ich ein Teenager war, litt ich sehr. Es ist hart, zu wissen, dass man nicht normal ist und früh sterben wird. Ich dachte damals, wenn ich sowieso bald sterbe, dann brauche ich mich auch nicht um meinen Körper kümmern, und machte Party. Als ich 20 war, sagten die Ärzte, wenn ich so weitermache, werde ich binnen sechs Jahren sterben. Aber kurz davor hatte ich das Klettern entdeckt. Das war meine Rettung. Ich hatte endlich etwas gefunden, was mir Freude machte. Mir wurde klar, wenn ich weiter klettern wollte, dann musste ich den Umgang mit mir selbst ändern. Das ist ein weiterer Weg, mit der Situation umzugehen: Ich akzeptiere, was ist und kümmere mich um meinen Körper und schaue, wie weit ich damit komme.

Wie sieht das aus, das Kümmern?
Ich mache gewissenhaft meine tägliche Therapie, mehrere Stunden Atemübungen zum Abhusten, und nehme Medikamente. Ich vermeide schlechte Luft, also verrauchte Räumlichkeiten, Stadtluft und Lagerfeuer. Ich trainiere meine Ausdauer, um meinen Zustand möglichst gut zu erhalten. Ich versuche die Medikation möglichst gering zu halten, da starke Nebenwirkungen den Organismus anderweitig schwächen – daran ist letztlich meine Schwester gestorben, ihre Nieren haben die Belastung nicht mehr mitgemacht.
Deine Schwester starb an den Nebenwirkungen der Medikamente?
Ja, sie ist 32 Jahre alt geworden. Einen Monat vor ihrem Tod hat sie mich in Ulassai besucht, obwohl die Ärzte davon abrieten. Sie wollte unbedingt herkommen und hat sich gefreut, den Ort zu sehen, der mir so viel bedeutet. Danach musste sie für eine Woche ins Krankenhaus. Als ihre Nieren danach aufgaben, nahm sie zu Hause Sterbehilfe in Anspruch. Medikamente sind wichtig, aber auch nicht ohne. Es gibt viele unterstützende Methoden ohne Nebenwirkungen, wie Sport. Unter anderem habe ich festgestellt, dass Kaltwasserbaden mir hilft.
Kaltwasser, gehst du dann hier auf Sardinien ins Meer?
Das Meer ist zu warm. Ich nehme eine kalte Dusche oder bade in den Quellen in der Gegend. Es war eher Zufall, dass ich gemerkt habe, wie gut das für mich ist. Denn eigentlich ist kaltes Wasser für Menschen wie mich nicht empfohlen, man könnte sich ja eine Lungenentzündung holen. Freunde von mir sagten, dass es ihnen gut tut. Ich habe es dann bei Hitze im Sommer mal ausprobiert und gemerkt, wieviel besser ich danach den Schleim loswerde.
Das ist dann saukalt, oder?
Ja, aber das ist im Kopf. Man darf nicht darüber nachdenken, und dann geht es. Natürlich nicht bis zum Zittern oder wenn man krank ist, und nicht allein und so weiter. Aber man kann sich daran gewöhnen, und es gibt keine Nebenwirkungen. Während Antibiotika die Haut kaputt machen, Zähne, Leber, Magen, die Bakterien des Verdauungstrakts, den ganzen Organismus. Das sollte man nehmen, wenn es nicht anders geht, wie Chemotherapie. Aber das sollte der letzte Ausweg sein. Es gibt kaum Antibiotika, die bei mir noch wirken. Also vermeide ich es, unnötig Medikamente zu nehmen, damit sie wirken, wenn es darauf ankommt. Dryneedling hilft mir, die Verkrampfung der Atemwege abzubauen. Leider interessieren diese alternativen Methoden die Ärzte kaum, sie denken nicht über ihre Pillen hinaus. Mittlerweile nehme ich an in einer Studie teil und bekomme neuartige Medikamente. Seitdem geht es mir deutlich besser, meine Lungen sind wieder so gut wie vor dem Krebs. Das Klettern motiviert mich, alles zu tun, damit ich noch möglichst lange weiter Klettern kann in meinem Leben.

Klettern als Antrieb?
Ja! Klettern ist ja auch eine Art Meditation. Bevor ich das Klettern fand, habe ich viel Alkohol getrunken, weil ich keinen Sinn in diesem Leben voller Krankheit gesehen habe. Das Klettern hat mir geholfen, eine positive Lebenseinstellung zu entwickeln. Außerdem – wenn du auf dem Sofa rumhängst und Computer spielst oder glotzt, merkst du ja gar nicht, wie schlecht es dir geht, wie sehr dein Körper degeneriert. Wenn du aber rausgehst und Sport treibst, merkst du, wie fit oder unfit du bist. Ich merkte, wenn ich nicht Party mache, geht es mir besser. Weil ich fit sein wollte, reduzierte ich die ungesunden Dinge und machte meine Therapie, weil wenn ich sie nicht machte, konnte ich nicht schwer klettern und hatte keine Chance in meinen Projekten. Es ist nur ein dummes Hobby, aber ich wäre nicht hier, wenn ich das Klettern nicht gefunden hätte.
Du verschiebst vermutlich auch nicht viel auf später?
Ich lebe so, dass, wenn ich morgen sterben würde, ich nichts bereue. Ich verschiebe nichts. Wenn mir etwas wichtig ist, mache ich es so bald wie möglich.
Hast du dann auch Eile, Projekte zu vollenden?
Nicht wirklich. Sie motivieren mich zum Training, stärker zu werden, aber letztlich geht es ja um nichts. Sie sind mir wichtig, aber eher, weil ich den Prozess genieße. Dazu sind sie ein Indikator, wie es um meine Gesundheit steht. Einmal habe ich eine Route erstbegangen (siehe Bild S. 46) und dachte, o.k., ich habe nur 50 Prozent Lungenfunktion, also schätze ich sie auf 8b. Dann probierte sie ein starker Freund und bekam die Züge nicht hin. 8b+ mindestens, sagte er. Das steht jetzt im Führer. Vielleicht ist sie sogar 8c, wer weiß? Aber die Zahlen selbst haben keine Wichtigkeit. Wenn ich schwer klettern kann, dann ist das gut, weil es heißt, dass ich nicht direkt morgen sterben werde. Manchmal ist es auch seltsam, wenn ich mich am Fels in den Projekten anderer Menschen aufwärme. Dann gehen die Leute davon aus, dass es mir gut geht. Aber verbinde Adam Ondra die Augen und verbiete ihm ein Bein, er wird immer noch dein Projekt klettern. Das heißt nicht, dass blind und einbeinig sein kein Problem sind. Es ist nicht so, dass ich mein Level mit Nichtstun erreicht habe. Meine Therapie startet morgens mit dem Aufstehen und endet abends, wenn ich zu Bett gehe. Das ist manchmal schwierig. Aber wenn ich mal nur noch 7a klettern kann, wird der Prozess derselbe sein, also was soll‘s. Es ist ja eh crazy, dass ich 8c klettern kann, mit halber Lunge und gravierenden Verdauungsproblemen. Das würde ich ja selbst nicht glauben, wenn ich nicht dabei wäre.
Und dein aktuelles Projekt?
Ich habe eines, das ich letzten Winter mit nur einmal Hängen klettern konnte. Das wäre das nächste Level für mich. Diesen Sommer konnte ich mit The laughing Heart eine neue Route klettern, die könnte 8c+ sein (siehe Bild unten). Das andere könnte 9a sein, aber auch wenn es jemand auf 8c+ abwertet, werde ich superhappy damit sein. Es bleibt ja die gleiche Linie.

Trainierst du gezielt?
Ich dehne, mache was für die Körperspannung und ein bisschen was am Beastmaker. Ich sollte mehr machen. Aber ich gehe auch sehr viel in meine Projekte und mache harte Züge am Fels.
Wovon lebst du?
Glücklicherweise bin ich in Belgien geboren, wo es ein gutes Gesundheitssystem gibt, das mich unterstützt. Als ich an Krebs erkrankt war, habe ich mehr Geld bekommen, weil bei Krebs bekannt ist, was für eine schlimme Krankheit das ist. Mukoviszidose hingegen ist selbst den Ärzten, die über meinen offiziellen Gesundheitstatus entscheiden, nicht immer ausreichend bekannt. So wurde meine Mutter, als sie einer Ärztin meine Verdauungsprobleme beschrieb, von dieser belehrt, dass Mukoviszidose eine Lungenkrankheit sei. Das ist hart, wenn Ärzte keine Ahnung haben. Auch die Fragen aus den Katalogen sind unpassend. Können Sie selbst ihre Schnürsenkel binden? Können Sie sich alleine waschen? Können Sie sich selbst etwas kochen? Tja, meistens! Manchmal geht es mir schlecht, dann nicht! Und natürlich, wenn ich am Fels schwer klettere, dann geht es mir gut. In meine Gesundheit investiere ich viel Zeit und Energie, die ich nicht hätte, wenn ich regulär arbeiten würde. Ich verbringe viel Zeit mit Klettern hier auf Sardinien. Hier geht es mir gut, auch weil hier die Luftqualität besser ist als in Belgien. Ich habe das Glück, dass mich meine Eltern nach wie vor unterstützen, dafür bin ich sehr dankbar. Es reicht für ein einfaches Leben, mein Geld geht in meine Gesundheit, Essen und Transport. Von meinen Sponsoren erhalte ich Kletterausrüstung, das ist für mich der wichtigste und wertvollste Luxus.
Du bist ein gesponserter Kletterer und teilst deine Erlebnisse wie andere Topathleten auch in den Social Media?
Ja. Eigentlich bin ich nicht der Typ für Social Media, ich mag diese Selbstdarstellerei nicht. Aber darüber kann ich Menschen erreichen. Manchmal bekomme ich Nachrichten von anderen Mukoviszidose-Kranken. Die profitieren davon, wenn ich alternative Methoden beschreibe, wie man möglichst gesund bleiben kann. Ich bin nicht anders als andere an Mukoviszidose-Kranke, ich tue nur sehr viel dafür, um möglichst gesund zu bleiben. Wenn ich damit Menschen erreiche und sie motivieren kann, sich besser um sich zu kümmern, dann lohnt sich diese Mühe. Das hilft mir selbst dann auch. Einmal haben mich Leute abschätzig betrachtet, weil ich am Fels Tabletten genommen habe. Sie dachten, ich nehme Drogen. Als ich klarstellte, dass es sich um Medikamente handelt, waren sie erst mal still. Deshalb ist es wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten. Einmal bekam ich eine Nachricht von einer Frau mit Mukoviszidose, die sich schämte, bei einem Date ihre Pillen vor dem Essen zu nehmen. Doch ihr Date fragte nach, und sie erklärte es ihm. Coolerweise hatte er meinen Film über Mukoviszidose gesehen. Schlussendlich kamen sie zusammen, sie fing an zu klettern und trainierte sogar im Krankenhaus. Das hat mich zu Tränen gerührt. Und auch das Einrichten von neuen Linien ist eine Art, etwas für andere zu tun. Es erlaubt mir, meine Kletterleidenschaft mit anderen Menschen zu teilen. Zu jeder Linie gibt es ja eine Geschichte. Wie bei The third Eye, wo mir der Skyhook rauskam und mich auf der Stirn traf, oder eben wie bei Still alive. Und wenn ich sehe, dass Menschen mit Freude meine Routen klettern, und die ihnen den Kletterurlaub verschönern, dann macht mich das super happy und ich freue mich, dass ich so etwas zurückgeben kann.
Danke Klaas! Keep crushing!

Chronik einer Krankheit: Stationen im Leben von Klaas Willems
- 1986 Klaas kommt zur Welt und wird sofort wegen Mukoviszidose behandelt
- 2001 Erste Krebserkrankung
- 2004 Klaas beginnt zu klettern
- 2008 Erste 8a-Route in Freyr; Klaas verlässt die Universität, um sich seiner schlechter werdenden Verfassung zu widmen
- 2009 Erste 8b+ (Esperanza in Freyr)
- 2012 Zweite Krebserkrankung
- 2016 Klaas' Schwester stirbt (sie wird 32)
- 2017 Erstbegehung von Still alive (8c) in Ulassai, Begehung der Nose am El Capitan in unter 12 Stunden
- 2019 Die Mukoviszidose zwingt Klaas mehrfach ins Krankenhaus, seine Lungenkapazität sinkt auf 30 Prozent; er braucht ein Jahr, um sich zu erholen
- 2021 Erstbegehung The laughing Heart (8c+) in Ulassai; Beginn der neuartigen medikamentösen Therapie innerhalb einer klinischen Untersuchung
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