Zwar sollte das Geschlecht in unserer Gesellschaft keine Rolle mehr spielen, doch die Realität hinkt leider hinterher. Deshalb hat Finn Kargl das Projekt Queerclimb in Berlin gegründet und erklärt im Interview, warum es nach wie vor wichtig ist, queeren Menschen (LGBTIQ+) eine Anlaufstelle zu bieten.
Finn, du hast das Projekt Queerclimb ins Leben gerufen. Was war der Auslöser und was bezweckst du damit?
Ich habe Queerclimb 2016 gegründet, um Frauen und queeren Menschen, die gerne klettern, eine Anlaufstelle zu bieten. Ich organisiere Kletter- und Boulderkurse, Workshops und Vorträge zu historische Themen. Außerdem gibt es zwei Mal im Jahr ein Vernetzungstreffen in Berlin für queere Bergsportler*innen, das letzte lief online ab. Ich möchte mit meinem Projekt einerseits das Lernen und Trainieren in einer angenehmen, einladenden Atmosphäre ermöglichen und anderseits einen Beitrag zur Diversität der Berliner Kletterszene leisten.

Kannst du uns deinen Werdegang beschreiben?
Ich komme ursprünglich aus Wien und bin mit einem Fuß in den Bergen aufgewachsen – Skifahren, Wandern und Klettern waren immer Teil meines Lebens, vor allem auch durch meine sportlichen Eltern.
Ungefähr Mitte 20 hab ich gemerkt, dass ich genderqueer bin, das heißt ich fühle mich weder als Mann noch als Frau. Mein Umzug nach Berlin folgte, ich fühlte mich in dieser bunten Stadt immer schon wohl – und es lässt sich hier auch ganz vorzüglich klettern!
Weil ich gern direkt mit Menschen, vor allem mit Kindern arbeite, habe ich Ausbildungen zum Kletter- und Fitnesstrainer gemacht und bin seither in diesem Bereich tätig.
Du schreibst auf queerclimb.com von Diskriminierung: "sexistische Witze, offene Beleidigungen, Kommentare über meinen Körper, ungewollte Tipps" – dem sind Frauen und andere Minderheiten alltäglich ausgesetzt, leider manchmal auch in der Kletterszene. Kannst du Beispiele nennen?
Ich hab Anfeindungen sowohl beruflich als auch privat erlebt. Nach einer langen, anstrengenden Mehrseillängentour kamen meine damalige Partnerin und ich abends in der Hütte an und wurden sofort gefragt, ob wir denn keinen Mann bei uns hätten, schließlich müsse ja jemand vorsteigen.
Ein Bergführer machte während meiner Alpinkletter-Ausbildung wiederholt übergriffige Kommentare über Frauenkörper – in einem professionellen Setting, die Hälfte der Kurs-Teilnehmer*innen waren weiblich.
Ein Kletterer mit viel zu großen Schuhen hing im Toprope-Seil neben mir und gab ständig ungefragt Tipps, als ich eine Route für den Kursbetrieb vorbereitete. Später stellte sich heraus, dass es sein erster Tag am Fels war.
Im Gespräch mit anderen Frauen und Queers hab ich herausgefunden, dass diese Vorfälle keine Ausnahme, sondern eher die Regel sind. Es sind keine einzelnen Kommentare, es ist die Fülle an Situationen, die sich ständig wiederholen, in denen man merkt: du musst dich rechtfertigen, weil du anders bist. Sind wir ehrlich: seit wann ist "für eine Frau kletterst du ziemlich stark" ein gutes Kompliment?
Da finden Zuschreibungen und Bewertungen statt, die mit der Realität wenig zu tun haben. Es gibt viele, die aufgrund des Dominanzverhaltens einiger Kletterer Boulderhallen nicht mehr aufsuchen.
Nach Alex Johnson gibt es nun mit Lor Sabourin eine weitere LGBTQ+ Person im Kletter-Rampenlicht. Warum ist es wichtig, dass das Spitzenpersonal bunt ist?
Unterschiedliche Vorbilder und Rollenmodelle sind sehr wichtig – wenn ich sehe: da gibt's jemanden wie mich, jemand der oder die mir selbst ähnlich ist, dann habe ich Vertrauen, dass ich auch so stark werden und irgendwann vielleicht 8A bouldern oder eine Bigwall klettern kann. Dann fühle ich mich zugehörig und möchte bei der Sportart dabei bleiben.
Viele Menschen sind irritiert, wenn es ihnen nicht gelingt, sofort das Geschlecht ihres Gegenübers zuzuordnen. Wie gehst du damit um?
Es ist nicht leicht, wenn man sich nicht etwas Eindeutigem zuordnen will, obwohl das die Gesellschaft fast ausnahmslos verlangt. Vor allem genderqueere oder nicht-binäre Personen lösen oft Verwirrung aus, weil sie sich zwischen den Geschlechtern bewegen oder damit spielen.
Einige Menschen haben noch nie davon gehört, da gibt es schon auch ein enormes Gefälle zwischen der hippen Berliner Boulderhalle und der Tiroler Almhütte.
Wieviel ich persönlich dann preisgebe, kommt deshalb auch immer aufs Gegenüber an. Es gibt Momente, wo ich einfach nur klettern möchte und nicht stundenlang erklären, wer oder was ich bin. In dem Fall sind meine Freund*innen und Kletterpartner*innen für mich da. Es ist manchmal anstrengend, die einzige andersartige Person zu sein – deshalb ist es wichtig, sich ein unterstützendes Umfeld aufzubauen, ein Supporter-Netzwerk innerhalb der Szene. Gerade beim Klettern geht es ja auch um Vertrauen, schließlich legt man das eigene Leben beim Sichern in die Hände eines anderen Menschen – da muss es auch im zwischenmenschlichen Umgang gut passen.

Und wie, würdest du dir wünschen, sollten diese irritierten Menschen sich verhalten?
Eigentlich sollte es keine Rolle spielen, wer da jetzt genau klettert oder vor einem steht. Ich wünsche mir einen respektvollen, aufgeschlossenen Umgang am Fels und in der Halle. Das sind schließlich mehr oder weniger öffentliche, gemeinsam genutzte Orte und wir Kletter*innen leben von unserer Gemeinschaft und Zusammenhalt. Wir können voneinander lernen, egal welches Geschlecht.
Wie muss die Welt aussehen, damit Queerclimb überflüssig wird?
Die Kletterszene ist ja in sich ein Teil der größeren Gesellschaft und spiegelt deren Ungleichheiten wieder, das zeigt sich strukturell zum Beispiel in den Preisgeldern, in den Bergführer-, Trainer- und Routenschrauberquoten. Aber auch in der Sprache, wie zum Beispiel Routen benannt werden und Guidebooks formuliert sind.
Klettern wird oft einem Abenteuer- und Freiheitsgefühl gleichgesetzt, aber tatsächlich war es gar nicht immer allen Menschen gleichermaßen vergönnt, an Expeditionen teilzunehmen oder Alpenvereinen beizutreten. Die Szene war sehr lange von weißen, männlichen Kletterern geprägt – dabei gab es aber immer auch schon starke Frauen, die in die Berge gingen. Über sie wurde seltener berichtet und heute, wo fast selbstverständlich über Spitzenathletinnen geschrieben wird, findet das oft in pinker Schrift und mit kuriosen Titeln statt.
Daran sieht man: Ausschlüsse sind historisch gewachsen und prägen uns subtil bis heute. Unwissenheit spielt dabei sicher eine Rolle, aber auch konservative Einstellungen und Ignoranz, weil sich nicht alle Menschen mit Themen, die sie nicht selbst betreffen, auseinandersetzen wollen.
Das zeigt sich auch bei der Diskussion zum "oben ohne in der Boulderhalle" (ob in einer Kletterhalle ohne T-Shirt mit nackter Brust geklettert werden darf, Anm.d.Red.), bei dem Kletterer immer wieder auf ihr Freiheitsrecht pochen und dann aber weghören, wenn Klettererinnen auf ihre Einschränkungen aufmerksam machen. Dabei gibt es Lösungsansätze, so dass sich alle in Boulderhallen wohl fühlen können. Aber immerhin: da tut sich etwas, es wird darüber gesprochen.

Es gibt immer noch viele Widerstände, die überwunden werden müssen – da ist Zivilcourage gefragt und ehrliches Interesse, sich mit der Geschichte und Zukunft der eigenen Sportart auseinander zu setzen.
Die größeren Institutionen können dabei wegweisend sein: Alpenvereine und Sponsoren können Diversität noch aktiver vorantreiben, Hallenbetreiber können Anti-Diskriminierungs-Policies in ihren Hausordnungen festlegen, Klettermagazine und Online-Formate können den Fokus auf unterschiedliche Menschen legen und dabei auf eine sensible Sprache achten.
Auch von einem wirtschaftlichen Standpunkt her macht es Sinn, inklusiv zu denken – Kletterhallen und Medien profitieren ja von vielen unterschiedlichen Kund*innen, die wiederkommen, wenn sie sich willkommen und repräsentiert fühlen.
Was habe ich nicht gefragt, ist aber noch interessant oder wichtig?
Es gibt mittlerweile etliche coole Projekte, die genau an diese Themen anknüpfen, also Menschen empowern, die sich bisher am Rand der Kletterszene bewegten. Ich denke da an Filme wie Black Ice (über PoC Kletterer*innen) oder Stumped (über Bergsportler*innen mit Behinderungen).
Zahlreiche Frauenkletter-Events und Symposien finden statt, Angebote für spezielle Zielgruppen entstehen. Diskussionen über gegendertes Marketing von Outdoor-Produkten oder über Körperbilder in unserem Sport finden statt und werden auch von den Medien aufgegriffen. Es gibt auch immer mehr Literatur und wissenschaftliche Studien zur Verknüpfung von Gender, Ethnizität, Klasse,... und Alpinismus. Das sind bereits alles sehr positive Entwicklungen!
Danke Finn!
Info unter www.queerclimb.com
Fußnote: LGBTIQ+ steht als Abkürzung für lesbisch, schwul (gay), bisexuell, trans-, inter-, asexuell, queer und weitere Formen, die nicht dem Standard von CIS entspricht. CIS oder Cisgender (=von lateinisch cis- "diesseits") beschreibt die Übereinstimmung von Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde, also meist der Aufteilung in Männlich und Weiblich.