Endlich. Alle nötigen Bohrhaken um den Stand herum sind verbunden, das gesamte Material mit einem einigermaßen ordentlichen System aufgehängt, die Portaledges installiert. Noch ist es hell und wir lassen unsere Seele in den gediegenen Hängezelten wortwörtlich baumeln. Musik säuselt aus den Boxen. Jetzt wird erst mal Kaffee gemacht!
Wo sind die Foodsäcke!? Wenn etwas nicht sofort zu finden ist, wird gleich beim „Magaziner“ die Schuld gesucht – und das bin ich. Alle Esswaren und Kochutensilien habe ich schon vor Monaten portioniert, abgepackt und sogar beschriftet. Diese doch recht penible Vorbereitung kommt uns nun zugute. Fixfertige Kaffeemischung raus, Kocher an und den Blick in der Zwischenzeit über die unglaublich schöne, zugleich bizarre, aber immer mehr vertraute Umgebung schweifen lassen.
Wir können es kaum fassen, schon wieder hier oben zu sein. Das Jümarn an den Fixseilen und das Nachziehen der Bags und Portaledges war zwar kein Vergnügen, aber langsam haben wir den Dreh raus. Und nach dem Kaltstart am Morgen hat es dank der Flaschenzugtechnik gut geklappt. Ein zufriedenes Grinsen macht sich auf unseren Gesichtern breit, es ist einfach der Hammer! Hier oben musst du nichts, du darfst oder du willst. Unten das Rauschen des Bocktschingelbachs, gegenüber der Düssistock, die Hüfihütte und der alles abrundende Hüfigletscher. „Das Wasser kocht!“ Ahh, der Kaffee schmeckt hier oben irgendwie auch besser. Wir scherzen, erzählen Geschichten und lassen vergangene Versuche Revue passieren.
Erstbegehung am Chalchschijen
Keiner hätte gedacht, dass sich dieses Projekt so lange hinziehen wird. Bis zum Anschlag motiviert und besser vorbereitet denn je haben wir den Hüttenwart der Hüfihütte mit einem Funk ausgestattet, um uns mit Wetterprognosen zu versorgen. Bereits vor zwei Monaten haben Jvan Tresch und ich das ganze Material den mühsamen Weg zum Biwakstein geschleppt und in Fässern deponiert. Jedes Mal ein Riesenaufwand, denn der Zustieg folgt zuerst einem Wanderweg, dann in wilder Abgeschiedenheit steilen Fels- und Grasbändern, wo Stürzen nicht in Frage kommt. Nach vier bis sieben Stunden erreicht man den Biwakstein, „Camp No Go“, wie wir ihn ironisch nennen.
Diesen Platz habe ich 2008 bei meiner ersten Erkundungstour gefunden. Der einzige Ort hier oben, der etwas Schutz vor schlechtem Wetter und ebenen Boden bietet. Den Stein haben wir immer mehr ausgestattet und nach dem Absturz eines Armeehelikopters mit einem kleinen Bausatz an Wrackteilen geschmückt.
Steil, gelb, Bigwall style!

Die 600 Meter hohe, stark überhängende Südostwand des Chalchschijen kennt wahrscheinlich jeder Urner Kletterer. Dennoch hat sich bisher niemand ernsthaft an ihr versucht. Alle, so auch wir, waren vom riesigen Aufwand, der Abgeschiedenheit und der Ausgesetztheit eingeschüchtert. Eines Tages glaubte ich, beim Inspizieren der Wand von der Hüfihütte eine Linie entdeckt zu haben. Allein stieg ich über den Hüfigletscher zum Einstieg auf 2200 Meter, kletterte 25 Meter über glatte Platten hoch und hängte zur Markierung ein Seil in einen Bohrhaken. Danach kehrte ich mit ein paar Fotos zurück, zeigte sie Jvan, und ein paar Bier später war es beschlossene Sache.
Am nächsten Wochenende verirrten wir uns prompt im Nebel und schafften es geradeso zum Biwakstein. Am Morgen versuchten wir im Alpinstil so weit zu kommen, wie es geht … Es ging, aber zäh und nervenaufreibend. Der Fels war schlechter als erwartet. Zwar hatten wir mit Störzonen gerechnet, aber die Gletscherkur scheint diesem Wandteil nicht gut bekommen zu sein.
Die geplante Linie ging erstaunlich gut auf. Wir gaben alles, setzten nur die nötigsten Haken, sicherten so weit es ging mit mobilen Sicherungsmitteln und kamen schnell voran. Mit fünf Seillängen konnten wir zufrieden sein, aber der Blick nach oben war ernüchternd. Uns wurde klar, im Alpinstil ist diese Wand einfach nicht zu schaffen! Sie gliedert sich in vier Teile: plattig, senkrecht, überhängend und nochmals senkrecht. Der überhängende gelbe Teil der Wand bereitete uns ernsthaft Sorgen. So steil und gelb, das ließ nichts Gutes erahnen.
Ein neuer Plan musste her. Nur stabiles Wetter im Hochsommer kommt in Frage. Da es kein Biwakband gibt, sind Portaledges die einzige Möglichkeit, um länger in der Wand zu bleiben. Also Bigwall Style! Jvan hatte die Ausrüstung, fehlte nur der dritte Kletterer.
Flugstunden und Flüche
„Weißt du noch – der Pendler von Reto?“, fragt Jvan augenverdrehend und verteilt Schokolade zum Kaffee. Wir erzählen Pascal, unserer neuen Unterstützung aus Zürich, die Geschichte: Im August 2008 stiegen wir mit Reto Gasser nochmals ein. Er jümarte nach, während Jvan und ich den Haulbag, ein Double- und ein Singleportaledge hochzerrten. Die neu gewonnenen Seillängen waren senkrecht und anspruchsvoll. Meist selbst abzusichern, weite Runouts und extrem ausgesetzt. Die achte Seillänge ist ein gewagter Quergang in gutem, scharfem Fels. Sicher nichts für jedermann und für den Nachsteiger genauso herausfordernd. Alles schien zu klappen, doch vom letzten Keil zum Stand war ein ziemlicher Abstand. Als Reto den Keil beim Jümarn schräg belastete, brach er aus und Reto pendelte acht Meter unter uns durch.
Betretenes Schweigen, dann Rufe: „Hey Reto, alles klar!?“ Von unten waren Flüche zu hören. Unter uns fiel die Wand bodenlos ab, hier wird es jedem mulmig. Und zu allem Überfluss hängte sich sogar einer der Jümars aus den Seilen aus. Üble Sache! Der Name „Camp Sketchy“ war geboren.
Out of Space am Chalchschijen - Fortsetzung
Aber die Geschichte geht ja noch weiter! Nach einer Zigarette im Stirnlampenlicht schlugen wir die Portaledges auf und übernachteten zum ersten Mal in der Wand. Am nächsten Tag meisterte Jvan eine weitere Seillänge im überhängenden gelben Teil. Der Fels war abartig, teils Tropflöcher, teils Bienenwaben, teils bröselig.
Und es wurde noch steiler. Wieder im Vorstieg setzte ich gehemmt einen Haken. Der Fels war brutal brüchig. Viele Griffe lösten sich unter meinen Fingern richtiggehend in Staub auf – der blanke Horror! Ich kletterte über den Haken, legte einen miesen Friend hinter einen Block und belastete ihn. Zack! Der Block löste sich, fiel auf mich, ich hing im Seil und konnte nicht atmen – scheiße! Mein Arm schmerzte. Alles aufgeschürft und blutig. Feierabend!
In der Hitze des Gefechts hatten wir gar nicht mitbekommen, dass das Wetter umgeschlagen hatte. Es regnete. Schnell beschlossen wir, im strömenden Regen abzuseilen. Die Nacht unterm Biwakstein war kalt und nass. Einen Tag später schneite es.
„Was gibt’s zu essen?“ Unsere Geschichten scheinen Pascal nicht satt zu machen. Ich zähle die Menüs auf. Die Wahl fällt auf „Indian Curry Rice“. Lecker! Danach kriecht jeder in seine Ecke und versucht zu schlafen.
Dann schlug das Wetter um
Schlafen kann ich noch nicht, aufgewühlt erinnere ich mich im Halbschlaf. 2009 fiel ich verletzungsbedingt aus, im Jahr darauf kehrten wir mit Dominik Angehrn und Zvonimir Pisonic als Fotografen zurück. Anfangs kamen wir gut voran, und ich konnte meine offene Rechnung mit der angefangenen Bruchlänge in Schlossermanier begleichen. Doch dann schlug das Wetter um. Tagelang harrten wir in den Portaledges aus, spielten Karten, rauchten und tranken Kaffee. In einer Woche schafften wir gerade mal drei Seillängen im Schutz der gewaltigen Überhänge.
Und es wurde immer kälter und ungemütlicher. Ende der Woche ein böses Erwachen: 35 Zentimeter Neuschnee. Der Berg wurde zum Pulverfass. Bald schossen die ersten Lawinen die Wand runter. Wir mussten hier raus, aber derzeit war es zu gefährlich. Die Schneemenge war immens. Dann die haarsträubende Abseilfahrt an halb gefrorenen Seilen. Allen war der Ernst der Lage bewusst und wir funktionierten perfekt als Team. Jvan riss sich eine Sehne an einem Finger, ansonsten überstanden wir diese gruseligen Stunden unbeschadet.
Zwetschenschnaps im Kaffee

Mit schwitzigen Fingern und einem flauen Gefühl im Magen wache ich abrupt auf. Der prüfende Blick aus dem Portaledge beruhigt mich. Es ist eine traumhafte Mondnacht, keine einzige Wolke am Himmel und sternenklar. Dieses friedliche Gesicht der Wand gefällt mir deutlich besser. Beruhigt schlafe ich weiter. Das Schlafen in Portaledges ist unbeschreiblich, vor allem am Morgen beim Aufwachen mit den ersten Sonnenstrahlen: zuerst der betörende Ausblick, dann der saugende Tiefblick. Da vergisst man sogar schmerzende Glieder.
Nach Kaffee und „Special Porridge“ ist Zürcher Power gefragt. Das ist das Geniale zu Dritt. Gestern konnte sich Pascal etwas schonen, während Jvan und ich uns beim Haulen geschunden haben. Unser Camp liegt diesmal weiter oben, am Ende der elften Seillänge mit dem brüchigsten Teil unter uns. Pascal klettert an der Lippe des letzten gigantischen gelben Überhangs durch die graue Tropflochlandschaft der zwölften Seillänge, 400 Meter über dem Wandfuß. Jvan und ich jümarn nach. Vor uns Neuland aus genialem grauen Kalk. Pascal ist skeptisch. Von unten sieht man absolut keine Griffe. Er klettert so weit es geht, versucht Cliffs zu setzen und zieht die Bohrmaschine nach. Dieses Nervenspiel wiederholt sich, dazwischen immer wieder Stürze – Pascal braucht den ganzen Tag. So schwer hätten wir es nicht erwartet.
Zurück im frisch getauften „Air Camp“ kommen erste Zweifel auf. Wenn das so weiter geht, werden wir es kaum auf den Gipfel schaffen. Jvan und mir graust die Vorstellung einer weiteren Materialschlacht mit der Wand im nächsten Jahr. „Voll geil, aber sackschwer!“, meint Pascal und murmelt etwas von 8a. Deftig! Wir gießen einen Tropfen Zwetschgenschnaps in unseren Kaffee, reißen trockene Urner Sprüche und motivieren uns gegenseitig.
Der Morgen kommt früh, Jvan weckt mich. Das Morgenritual ist hastig, bald stehe ich zum Vorstieg bereit. Verloren in einem grauen Meer aus Fels suche ich nach dem rettenden Ufer. Ich schwimme, kraule und mache mehrere Tauchgänge. Ich lasse mich von meinem Instinkt leiten und erreiche schließlich das angesteuerte Risssystem. Definitiv die Schlüssellänge! Jvan klettert den Riss weiter, und kurz darauf stehen wir zusammen vor einem Problem: Links verliert sich unsere angepeilte Linie in einer absolut blanken Wand, keine Chance zum Freiklettern.
Wir entschließen uns für Plan B: Dem Risssystem weiter nach rechts folgen. Die Kletterei verläuft eigenartig stemmend, verklemmend, fügt sich aber wie ein Puzzle zusammen. Drei Seillängen später können wir es kaum glauben: Der Gipfel ist nur noch 100 Meter über leichte Gratkletterei entfernt. Der Gipfel … Die ganze Anspannung, die Ungewissheit, die Vorgeschichte, Freud und Leid lösen sich in diesem Moment auf. Wir haben Zeit, verweilen und genießen.
It’s party time!

It’s party time! Zurück im „Air Camp“ feiern wir unseren Erfolg. Heute ist in Zürich Streetparade, also machen wir hier oben Wallparade! Ausgelassen überlegen wir bereits, was wir mit der restlichen Zeit anstellen, bis der Fotograf Robert Bösch zu uns stoßen wird. Was wohl? Klettern! Paul, der Hüttenwart, und seine Gäste haben alles mitverfolgt und gratulieren uns herzlich. Das Wetter soll halten. Wir legen uns zu chilligem Sound schlafen, machen Witze und überlegen uns einen Namen. Abgespaced ist die Route, anders, weit draußen, jenseits: Out of Space!
Die nächsten Tage bouldern wir die neu eingerichteten Seillängen aus. Pascal, unser Ropegun, punktet seine Länge (8a) und sogar die Schlüssellänge (8a+). Die Zeit vergeht, und der Besuch von Robert Bösch rückt näher. Und auf einmal bricht Hektik aus. Entfernt ist Rotorenlärm zu hören, und kurz darauf fliegt uns die Heli Gotthard mit Röbi schon um die Ohren.
Der gute Vibe hält auch die letzten Tage an, als Röbi für eine weitere Fotosession zu uns heraufjümart. Am Abend packt er sogar Bier und Kuchen aus dem Rucksack. Morgen werden wir abseilen. Alle freuen sich, endlich wieder normal laufen zu können und das Geschäft nicht immer in schwindelerregender Höhe zu verrichten. Darauf stoßen wir an.
Acht Tage in der Wand, für Jvan und mich sind es sogar schon 14 über die vier Jahre verteilt. Zeit zu gehen. Am Wandfuß herrscht Erleichterung, aber wir wissen, dass das letzte Kapitel der Geschichte noch nicht geschrieben ist: die durchgehend freie Begehung der Route.
Out of Space am Chalchschijen - Videos
Nach der packenden Geschichte und den spektakulären Bildern der vergangenen Seite kann man ja eigentlich nur noch neugieriger werden. In den beiden Videos bekommt man dann auch einen wunderbar bewegten Einblick in die Abenteuer von Jürgen Bissig, Dominik Angehrn, Zwonimir Pisonic, Pascal Siegrist und Jvan Tresch.
Dem Gipfel-Erfolg und dem Wetter entsprechend ist der zweite Clip etwas heiterer als der erste.