"Dann kam der Burnout" – Seb Bouin über DNA (9c)

Interview
„Dann kam der Burnout“ – Seb Bouin über DNA (9c)

Inhalt von
Zuletzt aktualisiert am 01.08.2022
Seb Bouin Interview
Foto: Raphael Foureau

Zum dritten Mal in der Klettergeschichte wurde der Grad 9c (UIAA 12) als Bewertungsvorschlag ausgeworfen. Nach Adam Ondras Silence (unwiederholt) und Alex Megos' Bibliographie (inzwischen 9b+) reiht sich Seb Bouins Neutour DNA ein in die absolute Topliga der Sportkletterrouten. Wir haben mit dem französischen Spitzenkletterer über die Erstbegehung gesprochen.

Interview mit Seb Bouin

Du hast mit zwölf Jahren mit dem Klettern begonnen. Wie bist du dazu gekommen?

Meine Mutter hat viele Outdoor-Sportarten gemacht und mich eines Tages zum Klettern mitgenommen. Das war ein Aha-Erlebnis. Ich bin dann regelmäßig in der Schule geklettert und habe meine gesamte Freizeit am Fels verbracht. Aber Adam Ondra hat in dem Alter schon seine erste 9a geklettert.

Ab wann wolltest du so schwer wie möglich klettern?

Ab dem ersten Mal.

Und wann hattest du das erste Mal das Gefühl, dass du bis zu den höchsten Graden vordringen könntest?

Das Gefühl hatte ich eigentlich nie. Es ist immer noch sehr schwer zu glauben. Es war einfach eine natürliche Entwicklung, immer härter zu klettern. Ich werde so auch weitermachen. Mein Ziel ist es, mein persönliches Limit so hoch wie möglich zu schrauben, und nicht primär, einen bestimmten Grad zu erreichen. Wir werden sehen, wie das weitergeht.

Seb Bouin Interview
Lena Drapella

Viele der führenden Felskletterer starten auch im Worldcup. Hast du das nie angestrebt?

Ich habe Wettkämpfe geklettert, als ich jünger war. Die Stimmung im französischen Team war aber nicht so gut. Und ich wollte unbedingt draußen klettern. Ich habe mich für den Fels entschieden, obwohl ich auch für Wettkämpfe motiviert war. Aber draußen habe ich mich zuhause gefühlt. Und als ich da gute Fortschritte gemacht habe, habe ich mich hundertprozentig auf das Projektieren von harten Routen konzentriert.

Wie und wieviel trainierst du? Und wie hat sich das im Lauf deiner Kletterlaufbahn verändert?

Ich habe anfangs nicht so viel trainiert, in harten Projekten zu klettern, genügte mir. Aber mir fehlten die Kraft und einige spezifische Fähigkeiten. Da habe ich übers Training dann Lösungen dafür gefunden. Und dabei viel über meinen Körper und meine Psyche gelernt. Die erste wichtige Lektion war, auf meinen Körper zu hören. Und die zweite, auf meinen Kopf zu hören.

Was sind die wichtigsten Faktoren, um am Fels stark zu werden?

Motivation. Wie du mit Misserfolgen umgehst. Strategie und die Zusammenarbeit mit anderen.

Deine neue Route liegt im Verdon im Sektor Ramirole. Wie sieht es da aus?

Es ist eine große Wand, und du fühlst dich am Wandfuß sehr klein. Es gibt einen riesigen Überhang, die Routen sind sehr beeindruckend. Der Verdon fließt 100 Meter tiefer. Und das sorgt für eine spezielle Atmosphäre. Es ist einer der einzigartigen Plätze dieser Welt.

Seb Bouin Interview
Lena Drapella

Du sagst, dass du nicht besonders stark bist, aber du liebst steile Routen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ich bin kein explosiver Maximalkraftkletterer, selbst wenn ich das trainiere. Und ich mag keine kleinen Leisten. Ich mag anstrengende Ausdauerrouten. Das ist genau der Stil von Ramirole. Das passt hundertprozentig zu mir. Der Stil sieht so aus: Schlüsselstelle, schlechter Ruhepunkt, Schlüsselstelle, schlechter Ruhepunkt – die perfekte Kombination für mich.

Wenn du eine Route 150 Tage projektierst: Wie oft denkst du da ans Aufgeben? Wie machst du weiter?

Das Wichtigste ist, das Motivation hoch zu halten. Dabei kann vieles helfen. Die richtige Strategie ist wohl der größte Teil der Reise. Und deinen Körper und Geist zu pflegen. Ich denke, du wirst am ehesten aufgeben wollen, wenn du dich in diesen Prozess zwingst und am Ende keinen Erfolg siehst. Wenn du das Gefühl hast, dass du zuviel investierst und es schließlich nicht schaffst, ist das frustrierend. Eine gute Strategie ist daher eine, bei der dein Glücksgefühl nicht vom Ergebnis abhängt. Dabei spielt natürlich dein ganzes Leben eine Rolle: Ist Klettern das einzige, was du hast? Hängt dein Lebensglück nur vom Klettererfolg ab? Im letzten November bin ich in DNA vier Mal noch nach den härtesten Zügen gestürzt. Es hatte elf Grad unter Null am Morgen. Ich übertrieb es mit den Versuchen, aber ich war so nah am Durchstieg, dass ich einfach nicht aufgeben wollte. Am Ende war ich mental völlig ausgebrannt. Ich musste lernen, das Projekt einige Monate liegenzulassen und dann körperlich und geistig stärker zurückzukommen. Was ich damals nicht begriff: Das war nicht "Aufgeben". Das war eine Pause, um stärker zurückzukommen. Wenn du dich zu sehr pusht, kann das Konsequenzen haben, die du in dem Moment nicht erkennst. Du kannst das Selbstvertrauen verlieren. Ich musste meine Psyche einige Monate wieder aufbauen, um im Frühjahr 2022 zurückzukehren.

Bist du nach dem Durchstieg von DNA in ein Motivationsloch gefallen?

Ja, schon ein bisschen. Das waren sehr intensive Monate. Aber ich bin schon wieder voll motiviert für andere Ziele. Auch wenn ich nicht so schnell so ein großes Projekt angreifen werde. Ich wollte Bibliographie klettern, bevor die Sommerhitze kommt. Aber dann musste ich für einen Reel Rock Film noch einmal einige Tage in DNA verbringen. Und jetzt ist es wirklich heiß. Ich werde das Projektieren in Bibliographie nicht überreizen, sondern auf die richtige Zeit und die richtigen Bedingungen warten. Ich war schon so nah dran. Ich muss in guter Form bei guten Bedingungen zurückkommen. Ich kenne die Route. Und ich habe keine Lust, noch einmal Zeit, Energie und Motivation zu verschwenden, indem ich etwas viel zu verbissen versuche.

Seb Bouin probiert Silence in Flatanger
Henning Wang

Denkst du, dass DNA dein ultimatives Statement in Sachen extremes Sportklettern ist? Oder hast du noch mehr Projekte dieser Art? Wie sieht es mit einer Wiederholung von Silence aus?

Ich habe noch größere Projekte. In Russan habe ich eine Route namens Inscouciance eingebohrt. Die könnte einen Grad schwieriger sein als DNA. Ich würde gerne andere Kletterer einladen, das gemeinsam zu versuchen. Und ja, Norwegen ist auf jeden Fall noch einmal ein Ziel für mich. Ich habe ja schon die erste und bisher einzige Wiederholung von Move (9b/+) gemacht und muss auch noch mal Hand an Silence legen. Es gibt außerdem noch ein hartes Projekt dort, das mir wirklich liegen sollte. Eine gewaltige Route durch die ganze Höhle, eingebohrt von Magnus Midtboe. Adam Ondra projektiert die, habe ich gehört. Warum nicht zusammen probieren?

(Anm.d.Red: Am 25. Juli kletterte Seb eine Kombination aus Nordic Plumber (8c) und der zweiten Länge von Thor’s Hammer (9a+) und verband diese bis zum Höhlendach zu einer einzigen 130-Meter-Seillänge. Er bewertete die Linie mit 9b/+ und taufte sie Nordic Marathon.)

Wie ist DNA im Vergleich zu anderen Toprouten, die du wiederholt oder versucht hast?

Die Bewertung war die große Frage. 9b+ oder 9c? Wenn ich DNA mit anderen Routen vergleiche, die ich gemacht oder versucht habe, dann ist sie deutlich härter. Verglichen mit Move (9b/+) und mit Bibliographie (9b+) habe ich das Gefühl, dass sie einfach schwieriger ist. Ein wichtiger Indikator ist auch die Zeit, die ich gebraucht habe. An DNA habe ich mindestens 150 Tage gearbeitet (wahrscheinlich sind es eher 200, aber bleiben wir einmal auf der sicheren Seite). Ich habe 40 Tage in Bibliographie verbracht und war kurz vor dem Durchstieg – ich bin drei mal ganz oben rausgefallen. Für Move habe ich ebenfalls 40 Tage gebraucht, 50 Tage für Beyond Intégral (9b/+), 25 Tage für Mamichula (9b). Für DNA habe ich mit Abstand am längsten gebraucht, und das waren nicht etwa Tage, wo ich halt mal versucht habe. Sondern ich habe mich auf jeden Tag vorbereitet und war fit. Und all das, obwohl die Kletterei in Ramirole genau mein Stil ist. Ist es so schwierig wie Silence? Ich weiß es nicht. Kam es mir nur so schwierig vor, weil es eine Erstbegehung war? Ich weiß es nicht. Der Grad 9b+ wäre die sichere Lösung gewesen. Aber 9c ist jetzt mal mein Vorschlag, auch wenn das Risiko besteht, dass es dann jemand abwertet. Aber das ist das Schöne an unserem Sport: Wir brauchen keine Schiedsrichter. Wir sind selbst die Schiedsrichter. Und die Meinung der Kletterszene legt am Ende den Grad fest.

Was genau macht DNA so schwierig? Was war für dich das größte Hindernis?

Definitiv die Ausdauer, die du brauchst, um das am Stück zu klettern. Die Einzelstellen sind nicht besonders schwierig für den Grad. Mein größtes Problem war einfach, dass ich es zu intensiv versucht habe. Ich wollte Zeit sparen und die Route so schnell wie möglich klettern. Dann kam der Burnout und da habe ich die Zeit wieder verloren. Ich habe bei dieser Route sehr viel gelernt.

Seb Bouin Interview
Julia Cassou

Extreme Sportkletterer reisen heute nach Nordspanien oder nach Ceüse. Kann deine Heimat zwischen Côte d‘Azur und Verdonschlucht da in Sachen Felsqualität und Routenauswahl mithalten?

Ja, die Region ist sogar noch besser. Nur nicht so in Mode. Mal sehen, ob irgendwann die Kletterstars kommen. Vielleicht lockt das dann mehr Kletterer an.

Welche deiner Erstbegehungen sind dir am wichtigsten?

Les yeux plus gros que l‘antre (9a+/b) ist eine großartige Route in Russan und verglichen mit anderen Routen sicher 9b. Es ist eine der besten Routen in diesem Grad. La Côte d‘usure (9a+) ist eine tolle Linie, die ich mit 16 Jahren von unten eingebohrt und 2018 gepunktet habe – was für ein Erlebnis. Beyond intégral (9b/+) ist eine harte Route an einem beeindruckenden Ort. Das sind alles 5-Sterne-Routen. Irgendwann werden sie auch mal andere Kletterer anlocken.

Was sind deine persönlichen Favoriten unter den Klettergebieten?

Ich liebe die Verdonschlucht, weil ich hier angefangen habe zu klettern. Flatanger ist ein besonderer Ort für mich, weil ich hier mit Adam Ondra eine unglaubliche Zeit hatte. 2013 verbachten wir einen Monat dort alleine zum Einbohren und um so viel wie möglich zu klettern. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben.

Worum geht‘s dir beim Klettern? Die Grade, das Erlebnis, etwas anderes?

Klettern ist eine Lebensart für mich. Neue Linien finden, reisen, neue Menschen treffen, an die Grenzen gehen, lernen, träumen. Und die lange Arbeit an DNA hat mir die Augen geöffnet für die Dimension der Zeit.

Seb Bouin Interview
KLETTERN Magazin

Wie macht einen guten Kletterpartner aus?

Ein glückliches Gesicht vom Klettern, motiviert und begeistert. Gute Stimmung ist mir am wichtigsten. Ich klettere mit allen gern, besonders mit Anfängern, weil sie bei jeder Route leuchtende Augen haben. Ich unterhalte mich aber gerne auch über andere Sachen als das Klettern, ich verlasse die Kletterwelt manchmal ganz gerne.

Was für ein Typ bist du? Was denken deine Freunde über dich?

Ich bin definitiv nicht geduldig, außer bei harten Projekten. Und das sagt meine Freundin über mich: leidenschaftlich, lustig, offen, neugierig, ungeduldig, chaotisch, dickköpfig, empfindsam.

Was willst du im Leben tun, bevor du alt wirst?

Es so gut es geht genießen. Klettern ist für mich die beste Möglichkeit, alle anderen Aspekte des Lebens zu verschönern. Es gibt meinem Leben ganz allgemein eine gute Grundstimmung. Und konkret: Ich will noch andere große Projekte probieren, in schöne Gegenden reisen, die Welt sehen.

Gibt es etwas, was du gerne an dir ändern würdest?

Ich würde gerne lernen, wie man seine Einstellung ändert, wenn Dinge schiefgehen. Lernen, wie man aus einer Blockade herauskommt und weitermacht. Weggehen und mit einer offenen Einstellung zurückkommen. Ein Problem Problem sein lassen und später wiederkommen.

Seb Bouin Interview
Sam Bié

Was ist dir außer Klettern wichtig?

Die Familie, Freunde, Träume, Leidenschaft, Sport, Liebe.

Danke Seb!

Kurz-Bio Seb Bouin und seine Erstbegehung DNA

Seb Bouin Interview
Raphael Foureau

Sébastien Bouin wurde am 7. April 1993 in Draguignan südlich der Verdon-Schlucht geboren. Mit ungefähr 12 Jahren begann er zu klettern, mit 18 punktete er seine erste 9a. Seither hat sich "Seb" zum führenden Felskletterer Frankreichs entwickelt. Mit der Wiederholung der Ondra-Route Move (2018) in Flatanger in Norwegen sowie den Erstbegehungen von La Rage d‘Adam (2019) im Verdon und Beyond Intégral (2021) hoch oben am Pic Saint Loup bei Montpellier schloss er ganz nah an die härtesten Routen der Welt auf. Am 29. April 2022 konnte der 29-Jährige schließlich sein bis dato mit Abstand schwierigstes Projekt klettern, die Route DNA im Sektor La Ramirole auf der schattigen Südseite der Verdonschlucht. Im gewaltigen Überhang des Sektors "du Bas" klettert und erschließt Seb schon seit zehn Jahren. 2019 bohrte er die Linie von DNA ein und probierte sie 2020 und 2021 monatelang. DNA startet mit einer 8c-Passage (fünf Zwischensicherungen) zu einem Ruhepunkt. Dann folgt erste Boulder-Crux (8A), die sehr unsicher zu klettern ist. Darauf folgt eine zweite Crux (8A+), ebenfalls sehr powerlastig und mit einem Untergiff, der nur bei guten Bedingungen zu halten ist. Nach einem Ruhepunkt folgt schließlich noch eine längere Passage im Grad 8c+. Macht laut Seb in Summe: 9c.