Bundestrainer Ingo Filzwieser im Interview

Wettkampfklettern
Bundestrainer Ingo Filzwieser im Interview

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Zuletzt aktualisiert am 13.06.2022
Hannah Meul Boulderweltcup Brixen 22 Finale
Foto: IFSC / Lena Drapella

Du bist beim DAV jetzt fest angestellt. Wohnst du noch in Innsbruck?

Ich habe eine kleine Wohnung in München und bin unter der Woche hier. Wir haben von 7:30 Uhr bis 19 Uhr am Abend Training, und da jeden Tag nach Innsbruck zu pendeln, macht keinen Sinn.

Von 7:30 Uhr bis 19 Uhr Training?

Wir haben unseren Trainingsstützpunkt am Olympiazentrum. Dort habe ich nur Platz für acht Athleten, das heißt, ich muss die in Gruppen aufteilen, die dann über den Tag verteilt kommen.

Wie viele Athleten betreust du denn insgesamt?

Das ist nicht so einfach zu beantworten, weil wir die Betreuung aufgeteilt haben. Friederike Kops zum Beispiel ist die Trainerin vor Ort in Köln für Yannick Flohé und Hannah Meul, ich bin aber der zuständige Bundestrainer. Ich schreibe die Saisonplanung und die Überblicksplanung, Friederike macht das Training vor Ort. Und hier in München habe ich über 16 Athleten, wo ich die Trainingsplanung und das direkte Training mache.

Bundestrainer Sportklettern Ingo Filzwieser
DAV / Marco Kost

Was bedeutet das neue Combined-Format aus Bouldern und Lead für deine Arbeit? Widersprechen sich da teilweise die Trainingsziele und -methoden?

Eigentlich überhaupt nicht. Wir haben ja im Weltcup schon immer von März bis Juli die Bouldersaison, dann von Ende Juni bis Oktober die Lead-Saison. Auch die Seilkletterer machen daher zuerst das ganze Bouldertraining, damit sie genug Maximalkraft haben. Um dann rechtzeitig auf das Leadtraining umzusteigen. Das heißt, die können sich sehr lange gemeinsam vorbereiten.

Bei der Europameisterschaft in München im August wird auch das Combined-Format geklettert. Wie werden alle punktgenau im Bouldern und im Lead fit?

Wir machen drei verschiedene Planungen oder Periodisierungen: einmal für die Boulderer, dann für die reinen Lead-Spezialisten und dann für die Kombinierer. Für Letztere ist es natürlich etwas komplexer. Die Boulderer haben einen ersten Höhepunkt zu Beginn der Saison und dann einen zweiten zur EM. Die haben auch von Ende Juni bis zur EM keine Worldcups mehr und können sich gezielt vorbereiten. Die Seilkletterer klettern die ersten Wettkämpfe Ende Juni und werden dann immer fitter bis zur EM im August, da ist das der Saison-Höhepunkt. Die Kombinierer machen die ersten Boulder-Worldcups mit, setzen dann aber bei den letzten aus, um sich auf die Leadsaison vorzubereiten. Dann wird die Maximalkraft noch einmal kurz aufgefrischt, damit sie zur EM am Leistungshöhepunkt sind.

Haben die Kombinierer ein größeres Trainingspensum?

Würde ich gar nicht sagen. Es wird einfach mehr durchmischt.

Wie groß ist denn das Pensum für alle, die sich ernsthaft auf die EM vorbereiten?

Die trainieren etwa 25 Stunden pro Woche, zwei mal am Tag, fünf Tage die Woche.

Entspricht das dem normalem Umfang im Spitzensport?

Ja, zwischen 25 und 30 Stunden ist normal im Spitzensport. Das ist das, was man braucht, wenn man vorne mitklettern will.

Afra Hönig und Hannah Meul beim Boulderweltcup Brixen 2022
IFSC / Lena Drapella

Sind Bouldern und Lead von den Anforderungen her heute noch soweit auseinander, wie es früher einmal war?

Sie sind auf jeden Fall näher zusammengerückt, trotzdem sind es noch zwei verschiedene Disziplinen. Beim Bouldern hast du sechs bis acht Züge und mit diesen Sprüngen viele ganz hohe, kurzzeitige Belastungen. In jedem Boulder hast du koordinative Elemente, wo du ein Vielfaches deines Körpergewichts abfangen musst. Beim Seilklettern ist zwar die Kletterzeit kürzer geworden und es kommen mehr Boulderelemente vor. Ausdauer spielt da nach wie vor eine Rolle, aber die Maximalkraftausdauer wird immer wichtiger. Denn wenn du nicht die Maximalkraft hast, die schweren Züge zu machen, dann nützt dir die ganze Ausdauer nichts.

Du hast unlängst gesagt, die Kraftkomponente beim Bouldern würde künftig wieder eine größere Rolle spielen. Wie kommt es dazu?

Ich mache immer Prozentrechnungen, welche Griffarten im Wettkampf vorkommen, damit ich das Training besser steuern kann. 2010 hatten wir bis zu 90 Prozent Leisten, jetzt haben wir 90 Prozent offene Griffe und Aufleger und fast keine Leisten mehr. Der Grund ist, dass die Athleten so stark geworden waren, dass die Boulderschrauber ihre eigenen Boulder nicht mehr testen konnten. Daraufhin haben sie angefangen, viel mehr koordinative Elemente einzubauen, wo die Kraftkomponente etwas im Hintergrund stand. Inzwischen haben sich die Athleten wieder soweit adaptiert, dass die Koordinationsprobleme wieder zu leicht sind. Jetzt müssen die Routenbauer wieder kleinere Griffe nehmen bei den koordinativen Sprüngen, weil die Athleten wieder so gut geworden sind. Das heißt, wir haben jetzt komplexe koordinative Elemente, die gleichzeitig an kleineren Griffen stattfinden. Deshalb spielt die Kraftkomponente wieder eine größere Rolle.

Die Boulderschrauber hecheln also quasi immer den Athleten hinterher?

Genau. Wir brauchen stärkere Schrauber.

Du hast die komplexen Sprünge erwähnt. Ist die Verletzungsquote durch diese Sprünge höher?

Wir stehen im Austausch mit vielen anderen Nationen, und es sind dieses Jahr traurigerweise so viele Athleten verletzt wie noch nie. Der Unterschied zu den Geräteturnern, wo es auch solche dynamischen Elemente gibt, ist: Geräteturner haben immer zwei Hände am Gerät. Die Boulderer müssen oft mit einer Hand in die Schulter springen und das abfangen, und diese Belastungen sind sehr, sehr schlecht. Wir haben leider so viele Schulter- und Knieverletzungen wie nie zuvor durch den neuen Routenbau. Das ist ein heißes Thema, dass sich da etwas ändern muss. Aber das ist sehr schwierig.

Yannick Flohé Boulderweltcup Brixen 22 Finale
IFSC / Lena Drapella

Wird die EM in München für euch eine erste Richtschnur für 2024? Sieht man da schon, wer sich für Olympia qualifizieren könnte oder ist das noch zu früh?

Auf jeden Fall, es ist nicht zu früh. Auch weil der Vier-Jahres-Rhythmus von Olympia dieses Mal auf drei Jahre reduziert ist und die Qualifikation schon nächstes Jahr ansteht. Die EM ist ein absoluter Wegweiser für uns.

Nächstes Jahr wird dann auf der WM in Bern die Qualifikation für Olympia beginnen. Wer darf mit nach Bern?

Da gibt es die internen Sportregeln, welche Ergebnisse erreicht werden müssen. Wir haben auch für den Kader jedes Jahr Richtlinien. Sie müssen zum Beispiel als Hausnummer Top 20 im Weltcup klettern, damit sie dann im Perspektivkader für das nächste Jahr sind. Und für die WM 2023 wird es ebenfalls solche Richtlinien geben.

Ist es so, dass Olympia jetzt alles überstrahlt, dass die ganze Planung auf Olympia ausgerichtet ist, und WM und Weltcup sind nur noch Vorbereitung auf Olympia?

Aus sportlicher Sicht ist Olympia natürlich das absolute Highlight, wenn man da mitklettern kann oder sogar eine Medaille schafft. Es gibt in einer Sportlerkarriere nichts Höheres, das man erreichen kann, das steht außer Frage. Trotzdem haben wir viele Spezialisten, die "nur" bouldern oder "nur" seilklettern, und für all diejenigen ist natürlich die Weltmeisterschaft das absolute Highlight.

Wie steht es mit der Qualität des DAV-Kaders? Da klettern einige Männer ganz vorne mit, bei den Frauen ist es noch nicht ganz so.

Bei den Damen können wir Hannah Meul hervorheben, die ist dieses Jahr extrem fit und wird beim Seilklettern vorne mitmischen können. Lucia Dörffel hat sich leider in Korea am Ellbogen verletzt und fällt die restliche Saison aus. Roxanna Wienand kann ins Halbfinale klettern, beim Bouldern genauso wie im Lead. Dann haben wir noch Käthe Atkins und Luisa Flohé sowie Martina Demmel – also bei den Frauen können einige ins Halbfinale klettern. Aber für die die Top 6 bis 8 haben wir nur Hannah Meul im Moment.

Hannah Meul Boulderweltcup Brixen 22 Finale
IFSC / Lena Drapella

Und bei den Männern?

Bei den Jungs ist es anders. Jan Hojer macht dieses Jahr Pause, hoffentlich ist er dann für Olympia noch einmal motiviert. Alex Megos macht nach Brixen noch den Boulder-Weltcup in Innsbruck und dann vier Lead-Weltcups, da hat er richtig Lust darauf. Und dann sehen wir. Yannick Flohé ist ein sehr heißer Kandidat für Olympia, deutlich jünger als die beiden und kann auch ganz vorne mitklettern.

Was macht den Unterschied zwischen ins Halbfinale klettern und unter den Top 6 sein?

Einerseits das Talent, das braucht man. Aber fehlendes Talent kann durch viel Training ausgeglichen werden. Wenn man nicht so talentiert ist und dafür hart trainiert, kann man sehr viel herausholen. Außerdem kommt es auf die Kraftkomponente an und auf die Bewegungsqualität. Die Kraftkomponente ist nicht bei jedem gleich, jeder hat von Haus aus ein anderes Kraftniveau. Bei Yannick zum Beispiel ist das von Haus aus extrem hoch. Da müssen andere viel mehr investieren, um dorthin zu kommen, wo Yannick von Haus aus ist. Und natürlich ist die Dichte unter den ersten 15, 20 Jungs beim Bouldern extrem hoch. Um dort heute hinzukommen, müssen wir schon im Jugendbereich anfangen und das Training über acht Jahre richtig steuern, damit die Mädels oder Jungs mit 18, 19, 20 dann vorne mitklettern können. Wenn das nicht rechtzeitig passiert, werden sie nie Weltspitze.

Alma Bestvater
DAV / Vertical Axis

Im neuen Combined-Format gibt es zum Teil andere Regeln als im Weltcup. Beim Bouldern gibt es im Combined zum Beispiel zwei Zonengriffe, im Weltcup nur einen, im Combined gibt es eine Punktewertung, im Weltcup nicht. Ist das alles noch verständlich?

Es wird komplexer. Ich verstehe, dass die IFSC nach einem Bewertungssystem sucht, das für die breite Masse verständlich ist. Wenn man nicht im Klettern drin steckt, ist es sehr schwer, Zonen und Tops und Versuche zu verstehen. Deswegen probieren sie, das langsam umzustellen. Ich habe die neuen Regeln mit den Athleten in Simulationen ausprobiert, und die zwei Zonen sind für die Athleten das viel fairere Wertungssystem. Es hat auch allen richtig Spaß gemacht und sie hoffen, dass das im normalen Weltcup auch bald kommt. In Amerika ist das ja schon lange so, dass es für jeden erreichten Griff Punkte gibt, und das ist noch viel besser als die zwei Zonen.

Beim Boulderweltcup in Meiringen gab es Diskussionen, weil vor der Qualifikation in der Isolation Bilder von den Bouldern gezeigt wurden. Ist das ein Trend, dass man vom Onsight-Modus weggehen will?

Die IFSC will in diese Richtung gehen. Sie wollen dem breiten Publikum und den Medien die Boulder schon medial aufbereitet und als 3D-Modell zeigen können, schon bevor die Athleten dran sind. Damit das besser möglich ist, wollen sie eigentlich am liebsten in den Flash-Modus kommen und weg von der Isolationszone. Was aber die Athleten zum Großteil gar nicht wollen.

Was stört die Athleten daran?

In Meiringen haben wir zum Beispiel mit ihnen die Lösungen durchgesprochen. Damit nimmt man ihnen aber die Möglichkeit, selbst über die Lösung nachzudenken und schränkt sie in ihrer eigenen Lösungsfindung ein. Wenn man ihnen dann vorgibt, das musst du so oder so machen, sind sie so darauf eingeschossen, dass sie eine andere Lösung gar nicht mehr sehen. Das wollen wir eigentlich gar nicht. Klettern hat auch etwas mit Intelligenz zu tun, wenn man selbst die Lösung finden muss. Wenn jetzt etwas vorgekaut wird, dann nimmt man uns einen großen Teil dessen, was Klettern eigentlich für uns ausmacht. Man nimmt uns etwas, was vom Spirit sehr viel ausmacht.

Vielen Dank!