Paddelabenteuer in Manitoba: 12 Tage Wildnis pur

12 Tage Wildnis pur
Paddelabenteuer in Manitoba

ArtikeldatumVeröffentlicht am 16.09.2025
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In der Ferne hörten sie den Fluss brodeln, Wasser schlug schäumend gegen die Felsen – ein sicheres Zeichen, dass die Fahrt vorerst wieder enden musste. Denn Stromschnellen hießen: ab ans Ufer und entladen. Holzfässer mit Vorräten, Säcke mit Werkzeug und Textilien, Pelzpakete, je 45 Kilo schwer. Alles musste um die unpassierbare Stelle geschleppt werden. Über verwurzelte, zugewachsene Pfade, die sonst nur Bären, Wölfe und Elche nutzten.

Es ging nur langsam voran vor ein paar hundert Jahren auf dem Bloodvein River in Manitoba, im Herzen Kanadas. Sechsundsiebzig Stromschnellen und Wasserfälle trennten die Voyageurs auf dieser Route vom Lake Winnipeg, einem zentralen Knotenpunkt für den Pelzhandel Nordamerikas. Viele von ihnen standen im Dienst der Hudson’s Bay Company – jener 1670 gegründeten Handelsorganisation, deren Einfluss in Nordamerika einzigartig werden sollte. Mit ihren "Canots du Nord", sieben Meter langen Güterkanus, befuhren die Voyageurs im 18. Jahrhundert Ströme wie den Bloodvein River.

Manitoba
Judith Beck

Dreihundert Jahre später sind wir auf derselben Strecke unterwegs. Und auch wir schauen alarmiert in unsere fünfköpfige Runde, wenn der fast stillstehende Bloodvein River in der Ferne zu brodeln beginnt. Bestenfalls erwartet uns eine seiner fantastischen fahrbaren Stromschnellen. Schlechtestenfalls droht eine mühselige Wanderung mit Sack und Pack und Kanus. Auf der Karte versprachen die "Gooseneck Rapids" eine wunderbar mäandernde Strecke. In Wahrheit erwartet uns ein Wildwassermonster und eine 1,5 Kilometer lange Tragepassage ... Während wir uns mit 40 Kilogramm schweren Fässern und 30 Kilogramm schweren Kanus durchs Dickicht kämpfen, höre ich zehn Meter vor mir Äste knacken, gefolgt von einem dumpfen "Plopp". Julian liegt wie ein Käfer auf dem Rücken. Das schwere Fressalien-Fass hat ihn niedergerungen, als er über einen umgestürzten Baum klettern wollte. Ich traue mich erst zu lachen, als er wieder auf den Beinen steht. Denn eines ist klar: Falls hier draußen etwas passiert, heißt das via Satellitentelefon einen Notruf absetzen, und das Abenteuer wäre beendet.

Soll ich oder soll ich nicht?

Dabei begann es erst vor drei Tagen. Und ich brauchte im Vorfeld lange, mich dazu durchzuringen: In meinem Kopf hatte ich eine Pro-Kontra-Liste erstellt. Auf der Pro-Seite: Kanufahren auf einem der letzten unberührten Wasserwege der Welt, zwölf Paddeltage entfernt von der Zivilisation, 76 Stromschnellen. Auf der Kontra-Seite: Wildcampen im Revier von Wölfen und Bären, potenzielle Unwetter, 76 Stromschnellen. Und nun bin ich hier, unterwegs auf dem Bloodvein River in Manitoba, Kanada.

Von der Provinzhauptstadt Winnipeg ging es nach Bissett, einem Dorf bestehend aus einer alten Goldmine und einem Startplatz für Wasserflugzeuge. Von dort flogen wir über ein schier unendliches Netz aus Wasseradern und Seen – in Manitoba gibt es über 100 000 davon. Eine halbe Stunde später ließ der Pilot uns dann allein am Artery Lake zurück, an der Grenze von Manitoba und Ontario. Vor meinem inneren Auge tauchte die Pro-kontra-Liste auf, und die Kontra-Seite wog plötzlich tonnenschwer. Ich stand allein mit vier Paddlern, die bis gestern noch Fremde waren, und 200 Kilometer westlich der nächsten Schotterstraße zur Zivilisation – ein Zurück gab es nun nicht mehr.

Kurz nach Julians Missgeschick während der Portage bringt mich die erste Stromschnelle wieder auf Spur. Was für ein Spaß! Und was für ein Glück, dass mein Steuermann Julian früher in der Nationalmannschaft gepaddelt hat. So kriegen wir unseren Zweier-Kanadier meist trocken und oft sogar ohne mühseliges Entladen durchs Wildwasser. Im anderen Zweierboot sieht die Sache anders aus. Aber die Rookies Steve und James geben alles, um an Bord zu bleiben. Und Guide Garrett, der solo unterwegs ist, gibt stets gute Tipps – vor, während und nach dem Kentern. Ich erkenne den großen Vorteil, dass die Rapids hier oft in ruhigen Pools enden: Zeit und Platz zum Gepäckeinsammeln, Bootausleeren und Krönchenrichten.

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Judith Beck

Als ich mich langsam auf die Einsamkeit einlasse, sehen wir links eine Horde Jugendlicher mit bunten Perücken und Sonnenbrillen in Herzform. Wir sind noch so frisch hier draußen, dass ich mich über die Begegnung mit Menschen kaum wundere. Die US-Amerikaner aber sind schon einen Monat lang im Kanu unterwegs. Beim Weiterpaddeln ahnen wir nicht, dass dies die letzte Begegnung mit Menschen gewesen sein wird. In der Ferne hören wir den einsamen Ruf eines Seetauchers, des Nationalvogels Kanadas. Ich höre ihn noch, als wir das Lagerfeuer löschen und ich in meinem Zelt liege. Nacht eins in der Wildnis Manitobas. Zu behaupten, dass meine erste Nacht hier draußen geprägt war von seligem Schlaf, wäre eine glatte Lüge. Mein Kopfkino bot alles vom Wolfsrudeltanz rings um mein Zelt über Regentropfen, die ich wie Starkregen wahrnahm, bis hin zu Bären, die über meine kreuz und quer verknoteten Zeltschnüre stolperten und mit dem Popo auf meinem Gesicht landeten. Aber der klare Morgenhimmel ist so vielversprechend, dass ich mich riesig auf den Tag freue. Heute paddeln wir 25 Kilometer bis zum nächsten Camp. Die Strömung auf dem Fluss ist so gering, dass ich manchmal denke, wir sind auf einem See. Bis die nächste Stromschnelle auftaucht und mich erinnert, wo wir sind. "Rapid!", kündigt Julian euphorisch an. Bei jeder Stromschnelle suchen wir uns aufs Neue einen Punkt an Land, wo wir das Wasser gut einsehen können, analysieren und entscheiden: to run or not to run. Die meisten fahren wir, bis Wildwasser IV. Ich verlasse mich auf Julians Entscheidung. "50 Prozent", beurteilt er dieses Mal die Wahrscheinlichkeit, dass wir durchkommen. Also lassen wir das Gepäck besser am Ufer, ehe er unser Boot perfekt in Richtung des "V" lenkt, das sich an Strömungszungen bildet und die trockenste Linie verspricht. Wir rutschen ein Stück über die glatte Oberfläche. Dann steche ich in die schäumenden Rapids. Fliegen, landen, paddeln. Fliegen, landen, paddeln. Der Fotobeweis wird offenlegen, dass ich vor Aufregung und Freude die ganze Zeit den Mund offen hatte. Dann kehrt wieder Ruhe ein auf dem Bloodvein River. Wir paddeln so dahin und hängen unseren Gedanken nach, bis sie irgendwann verstummen.

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Judith Beck

Paddeln im Land, das Leben gibt

Es ist wie eine tiefe Meditation im Herzen dieses riesigen geschützten Waldgebietes am Rande des Lake Winnipeg. Der Bloodvein River hat sich tief in den Granit gegraben und dabei eine Schicht aus rotem Gestein sichtbar gemacht – die "Blutader", die dem Bloodvein seinen Namen gab. Die Stämme der Anishinaabeg First Nations nennen das 29 000 Quadratkilometer große Mosaik aus Seen, Wäldern und rot schimmernden Wasserfällen Pimachiowin Aki: das Land, das Leben gibt. Es wurde von der UNESCO 2018 zum Welterbe erklärt. Nach dem Glauben der Anishinaabeg können Wohlstand und Güte nur durch harmonische Beziehungen mit dem Schöpfer und allem Leben erreicht werden. Das Land als Quelle guten Lebens. Wir wandeln auf den Spuren der indigenen Völker, die hier in Birkenrinden-Kanus unterwegs sind und waren. Als Halbnomaden folgten sie den saisonalen Wanderungen des Wildes und nutzten die Flüsse als Verkehrswege. Im 17. und 18. Jahrhundert pflegten die First Nations enge Handelsbeziehungen zu europäischen Pelzhändlern, insbesondere den Voyageurs. Als Meister des Kanufahrens und der Navigation teilten sie ihr Wissen mit den Reisenden und versorgten sie mit Nahrungsmitteln wie Pemmikan, einer Mischung aus Dörrfleisch und Fett. Auch und vor allem aber tauschten sie Biberfelle gegen Waren wie Metallwerkzeuge, Waffen und Textilien. Die Spuren der Vergangenheit sind in der üppigen Natur auf den ersten Blick nicht sichtbar. Man muss schon wissen, wo etwa noch Piktogramme sichtbar sind, die Ureinwohner mit rotem Ocker und Störfett auf die Felsen gemalt haben.

Glamping-Feeling im Nirgendwo

Nächster Halt: Stonehouse Rapids. Der Fluss verschwindet hinter einer Abbruchkante in einem engen Canyon. Die Stromschnellen sind mit den offenen Booten unfahrbar. Als Trost erwartet uns am höchsten Punkt der Portage ein "Fünf-Sterne-Campingplatz", wie Garrett stolz ankündigt. Auf dem Felsplateau schlagen wir unsere Zelte auf. Die Magie des Ortes nimmt mich gefangen. Ich schnappe mein Öko-Shampoo und ein Handtuch und hüpfe hinunter zum "Swimmingpool", in den die aufgeworfenen Wellen münden und sich alsbald beruhigen, als hätten sie die wild gestapelten Felsen nie aus der Ruhe gebracht. Mit Anlauf springe ich ins warme Wasser, lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen und bin einfach nur glücklich. Ein Stück flussabwärts hat James geduldig wie immer seine Angel ausgeworfen. Und an einem Felsen ein paar Meter weiter oben sitzt Julian, vertieft in sein Buch. Wildcamping-Urlaub de luxe. Diese Nacht schlafe ich tief und fest, eingehüllt ins sanfte Rauschen des Wassers.

Neun Tage Abenteuer liegen noch vor uns. Wir werden Stromschnellen paddeln, denen Julian eine 80-Prozent-Gelinggarantie zuschreibt und die uns trotzdem vom Hocker reißen. Wir werden durch Gebiete paddeln, in denen Buschfeuer den Bloodvein wie einen Windkanal hinunter gefegt sind; wo Feuerlilien aus dem schwarzen Boden sprießen und verkohlte Kiefernstämme mystisch im Morgennebel stehen. Seekopfadler werden immer wieder über uns kreisen. Am vorletzten Abend werden wir laut auf Töpfe schlagend und mit Kameras bewaffnet einen Schwarzbären verfolgen, den Garrett kurz zuvor im Wald entdeckt hat. Wir werden schwerelos dahintreiben in einer Natur, die der Mensch bis heute in Ruhe gelassen hat. Weit weg vom kontrollierten Leben, mitten durch das wilde Herz Kanadas.