In diesem Artikel: Yoga – mehr als nur Ausgleichssport + Klettertypische Probleme lindern + Yoga fördert die Gesundheit + Yoga umfasst mehr als Gymnastik + Bitte keinen Falschen Ehrgeiz
Es ist kein Zufall, dass viele Kletter- und Boulderhallen auch Yoga im Angebot haben. Nicht nur die Fußball-Nationalmannschaft, auch das deutsche Kletter-Team integriert Yoga ins Training. Doch warum ist die alte indische Lehre die perfekte Ergänzung zum Bouldern und Klettern?
Auf körperlicher Ebene gibt es eine Reihe von Effekten, die Yoga, oder besser gesagt das Üben von Yoga-Haltungen, zum idealen Ausgleichs- und Reha-Training machen. So erklärt Marius Beyer, der unter dem Namen ‚Kletteryoga‘ bundesweit Workshops anbietet: "Klettern macht Muskeln und Strukturen tendenziell fest. Yoga hingegen macht den Körper wieder geschmeidig." Doch dies könnte vermutlich ein ausgewogenes Dehnprogramm auch. Moment mal, aber Yoga besteht doch aus Dehnen?
Das stimmt natürlich. Doch Yoga-Übungen verbinden kräftigende Elemente, Dehnungen, Faszien-Arbeit und Fokus auf den Atem dergestalt, dass mehr daraus entsteht als die Summe seiner Teile. So ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass regelmäßig praktizierte Yoga-Übungen imstande sind, eine Reihe von Aspekten zu beeinflussen, die über rein physische Effekte hinausgehen.

- Stresshormone im Körper verringern
- das Energielevel anheben
- Rückenschmerzen lindern
- die Konzentration verbessern
- die Schlafqualität positiv beeinflussen
- das Herz-Kreislauf-System stärken
- gegen Depressionen helfen und
- das Hormonsystem ausbalancieren.
Eine Studie hat sogar festgestellt, dass täglich Yoga-übende Schulkinder Nährstoffe besser aufnehmen als ihre nicht-übenden Mitschüler. Eine ähnlich beeindruckende Bilanz kann kein Sport aufweisen, allein Meditation und Achtsamkeits-basierende Techniken können da mithalten. Aufs Klettern bezogen heißt das, dass wir mit dem regelmäßigen Üben von Yoga nicht nur Probleme wie muskuläre Dysbalancen adressieren können, sondern dass auch unsere Mental-Abteilung profitiert. Doch fangen wir von vorne an.

Klettertypische Probleme lindern
Der vielleicht offensichtlichste Nutzen für Kletterer liegt in den Yoga-Übungen, auch Asanas genannt. Unzählige Übungen ermöglichen das Entwickeln ungeahnter Potenziale, sei es in Sachen Kraft oder Beweglichkeit. Für Kletterer gibt es eine Reihe von Haltungen, die viele der klettertypischen Beschwerden lindern und ausgleichen können, indem sie Beweglichkeit wieder herstellen und verkrampfte Muskulatur entspannen helfen. Ganz zu schweigen von dem Spaß, den anspruchsvolle Yoga-Haltungen wie Handstand zum Beispiel bringen. Hilfreich für Kletterer ist zuerst das (Wieder-)Herstellen gesunder Muskeln und Faszien, die oft verkürzt, verspannt oder verklebt sind.
Um einmal grob zu verallgemeinern: Kletterer neigen zu schlechter Haltung. Die Schultern tendieren nach vorn, die ausgeprägte Rückenmuskulatur schränkt die Mobilität der oberen Wirbelsäule ein; auch muskuläre Dysbalancen treten schnell auf, wenn man ausschließlich klettert. Im schlechtesten Fall sorgen die nach vorn fallenden Schultern für eine verringerte Durchblutung der Arme. Die dadurch nicht mehr zentrierte Schulter verursacht Schulter- oder Ellbogen-Beschwerden, und die meist zu unbewegliche Brustwirbelsäule trägt noch zu den Problemen bei.
Mit spezifischen Yoga-Übungen, vor allem Dreh-Bewegungen im Oberkörper und Rückbeugen, kann hier effektiv entgegen gewirkt werden. So ist das Erhalten oder Wieder-Erlangen von Mobilität und Bewegungsspielraum ein wichtiges Argument für eine das Klettern ergänzende Asana-Praxis. Dass es beim Klettern hilfreich ist, wenn man den Fuß sehr hoch an die Wand stellen kann, wird niemand bestreiten. Die für höhere Schwierigkeitsgrade essenzielle Hüftbeweglichkeit lässt sich hervorragend mit Yoga ausbauen: Schließlich wollen wir unseren Körperschwerpunkt optimal navigieren können, und nicht nur einen Bruchteil unserer Möglichkeiten ausschöpfen.

Weil viele Yoga-Übungen Stützbewegungen beinhalten, bietet ein ausgewogenes Asana-Programm in einer regulären Yoga-Stunde für Kletterer bereits ein ausgezeichnetes Ausgleichstraining für Kletterer, die ja viel ziehen. In einer Yoga-stunde startet man meist mit Standpositionen, die in erster Linie Muskulatur und Balance stärken, und geht dann über zu den sitzenden Positionen. Hier wird wiederum unterteilt in Vor- und Rückbeugen, Drehungen und Umkehrhaltungen.
Eine reguläre Yoga-Stunde verläuft also meist von Aufwärm-Übungen wie dem Sonnengruß über anstrengende Standhaltungen zu den Sitzpositionen, am Ende gibt es meist eine End-Entspannung. Klassischerweise wird Yoga nahezu täglich geübt, so dass es möglich ist, nachhaltig an verschiedenen Baustellen im Körper zu arbeiten. Doch auch als gelegentliche Auflockerung können Yoga-Haltungen das Trainingsprogramm bereichern. Alex Megos zum Beispiel macht nur hin und wieder Yoga, und schätzt daran "hauptsächlich die Handstände". Und dass "viel gedehnt wird, vor allem für Schultern und Hüfte".

Indessen kann Yoga mehr als nur beweglich machen und die Muskulatur entspannen. Regelmäßiges Yoga-Üben beeinflusst, wie eingangs erwähnt, den gesamten Mensch. Wer sich wundert, wie regelmäßige Vorbeugen die Psyche regulieren können: Stress oder auch Angstzustände sind körperlich messbare Zustände, die sich über die Ausübung von Körperhaltungen beeinflussen lassen. So erklärt Ronald Steiner "Yoga fördert körperliche, aber auch psychische Gesundheit. Nur weil die Übungen vom Augenschein erst einmal körperlich sind, heißt das nicht, dass ihre Wirkung auf den Körper begrenzt ist. Oder anders herum gesehen: Unser Geist sitzt ja im Körper. Dass der also im Laufe der Praxis beeinflusst wird, ist kein Zufall. Die Trennung von Geist auf der einen und Körper auf der anderen Seite ist eine künstliche, die uns im Zweifel nicht weiterhilft. Alles, was wir im Yoga machen, funktioniert. Wenn es nicht funktionieren würde, wäre es nicht im Yoga integriert".
Während Yoga meist mit wilden Verbiegungen der Gliedmaße assoziiert wird, ist das Hauptziel der indischstämmigen Kunst nicht körperlicher Art. Entwickelt wurde das Yogasystem, um den Menschen gesund zu halten (oder zu machen), auf dass Selbstverwirklichung und Erleuchtung möglich werden. Doch selbst wenn man diese eher abstrakten Ziele als nicht so spannend einschätzt, kann man aus dem mächtigen Arsenal des Yoga hilfreiche Teile herausgreifen.
Dass vor allem der Aspekt der Achtsamkeit für Kletterer von Bedeutung ist, findet Yoga-Lehrerin und Kletterin Marissa Land, die in Tirol und Südafrika unterrichtet: "Yoga verbessert unser Körpergefühl, unseren Fokus und die Ausrichtung, verringert das Verletzungsrisiko und stärkt die Intelligenz unseres Körpers. Doch wenn ich den einen großen Nutzen von Yoga fürs Klettern nennen soll, dann ist dies Achtsamkeit. Das heißt die Fähigkeit, unsere gesamte Aufmerksamkeit auf den jetzigen Moment zu richten. Diese mentale Disziplin ist beim Klettern ungeheuer hilfreich und kann beim Yoga erlernt und vertieft werden. Über das Üben auf der Matte lernen wir, uns außerhalb unserer Komfortzone zu bewegen; bei Anstrengung den Atem zu nutzen und ruhig zu bleiben, hilft uns auch an der Wand, unser volles Potenzial auszuschöpfen."

Yoga besteht neben den Körper-Haltungen noch aus weiteren Säulen, die den Menschen gesamtheitlich unterstützen. Neben den physischen Übungen (Asanas) sind dies Verhaltensregeln (Yamas und Niyamas) wie zum Beispiel Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Mäßigung. Diese "Regeln" stellen eine Art Leitfaden dar. Es geht dabei weniger darum, sich zu geißeln, weil man eine der Regeln gebrochen hat (Gewaltlosigkeit ist auch sich selbst gegenüber zu üben), sondern eher darum, eine Art Kompass zu bekommen. So kann man sein Handeln anhand der yogischen Konzepte reflektieren: Wie ehrlich kann ich sein, ohne jemandem weh zu tun? Kann ich mich vom Ergebnis meines Handelns distanzieren und mich dem Moment widmen? Wann lüge ich mir selbst in die Tasche? Diese Fragen lassen sich auch auf die eigene Kletter-Situation anwenden – möglicherweise tun sich dabei neue Perspektiven auf.
Nichts Neues, mag man einwenden, ähnliche Gebote hat ein gewisser Moses auch schon verkündet. Au Backe, raufen sich jetzt manche die Haare, eine weitere Pseudo-Religion hat mir gerade noch gefehlt. Doch geht es beim Yoga nicht um religiöses Getue, sondern konkret darum, Leid zu mindern. Im Großen, Allgemeinen, aber auch im Kleinen, Persönlichen. Die Konzepte sind nichts Neues und doch von universeller Brauchbarkeit. Sei dies beim Klettern, bei der mentalen Wettkampfvorbereitung, bei der Behandlung und Reha von Verletzungen oder profan an der Supermarktkasse, wenn man in Eile ist.
Yoga kommt in vielen unterschiedlichen Formen und Stilen, je nach Neigung und Lehrer wird sich der eine beim Iyengar-Yoga und der andere beim Vinyasa-Yoga gut aufgehoben fühlen. Die Grundlagen der verschiedenen Yoga-Stile sind die selben, doch legt zum Beispiel Sivananda-Yoga zusätzlich zu den Asanas Wert auf Atem-Übungen (Pranayama), während Kundalini-Yoga sich hauptsächlich mit dem Stimulieren der körper-eigenen Energien beschäftigt. Für Kletterer und für den Einstieg eignen sich vor allem Ashtanga-Yoga, Power-Yoga oder Vinyasa-Yoga: Hier werden mehr oder weniger spielerisch athletische Übungen so mit dem Atem kombiniert, dass die Bewegungskompetenz gefördert wird und klettertypische Problemfelder am besten bearbeitet werden können.

Allen Yoga-Formen ist gemein, dass es nicht um einen Sport im Sinn von "Training" geht, sondern dass die Praxis dazu da ist, dem Menschen dort zu helfen, wo er sich gerade befindet. Das heißt, dass man beim Yoga üben selbst aufmerksam seinen Körper beobachten muss, um zu evaluieren, wie weit man jeweils gehen kann, um sich zu fordern, aber nicht zu überfordern. Wer mit zu viel Ehrgeiz und Ambitionen im Yoga Befriedigung sucht, befindet sich auf dem besten Wege zur Verletzung.
All die oben genannten Aspekte der Yoga-Philosophie lassen sich natürlich auch jenseits der Matte üben. Doch hier kommt das Besondere der Yoga-Methode ins Spiel. Sie ist so konstruiert, dass wir nicht konkret Konzentration, körperliche Kräftigung oder einen ruhigen Geist einzeln kultivieren müssen. Wer regelmäßig mit Konzentration und fließendem Atem Yoga-Haltungen übt, erarbeitet sich das gesamte Paket auf einen Schlag. Regelmäßig geübtes Yoga hat das Potenzial, unsere mentale Stärke aufzubauen und unsere Stress-Resistenz zu erhöhen. Für Menschen mit Sturz- oder Versagensangst beim Klettern ist das vielleicht kein ganz unwichtiger Faktor.
Unser besonderer Dank geht an alle Mitwirkenden an diesem Artikel:
Dr. Ronald Steiner ashtangayoga.info
Olivia Hsu oliviahsu.com
Marius Beyer – 'Kletteryoga' auf Facebook
Marissa Land Yoga marissalandyoga.com
Janosch Steinhauer www.janoschs-turnstunde.com
Danke auch meinen Lehrern Andreas Loh und Farzad Ahmadpour