
Die goldenen Nadeln hoch oberhalb des Schweizer Val Ferret bieten einige der besten Granitklettereien im Mont Blanc Gebiet. Ob plaisir, knallharte Risslinien oder alpine Sportklettereien, es sollte für jeden etwas dabei sein. Wer es etwas gemäßigter mag, bucht sich am besten für ein paar Tage auf dem Refuge d’Orny ein. Hüttenwirt Raymond Angéloz hat im direkten Umfeld (Aiguille de la Cabane und Aiguille d’Orny) einige sehr schöne Linien eingebohrt, die den Franzosengrad 6b selten überschreiten. Ebenfalls von der Cabane d’Orny zu erreichen ist der Petit Clocher du Portalet, ein Granitklotz, an dem einige sehr, sehr harte Linien zu finden sind. Der alpine Sportkletterer hingegen wird sich auf dem Dorée-Biwak für einige Tage einmieten. An den Südwänden der Aiguilles Dorées wartet eine Traumlinie neben der anderen. Voraussetzung für eigentlich alle Routen hier ist der sichere Umgang mit mobilen Sicherungsmitteln sowie der siebte Grad (6b).

Anreise: Mit der Bahn bis Martigny. Dort umsteigen und mit der winzigen Lokalbahn bis Orsières und weiter mit dem Postbus nach Champex oder Praz de Fort. Champex weist den kürzesten Zustieg zur Cabane d‘Orny auf. Wer eine Rundtour plant (und ggf. sogar mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs ist), sollte lieber Praz de Fort als Ausgangsort wählen. Parkplätze findet man im Wald hinter Praz de Fort an der kleinen Straße Richtung Prise d’eau de Saleina.
Beste Zeit: Juli bis September
Führer: Plaisir West Band II enthält alle leichteren Routen an den Aiguilles Dorées und rund um die Cabane d‘Orny, Edition Filidor, 2019. Olivier Roduit: Entremont Escalades, www.grimper.ch, Kletterführer (französisch). SAC Clubführer Walliser Alpen Band 1, Vom Trient zum Gr. St. Bernhard, SAC Verlag
Karten: Landeskarte der Schweiz, 1:25.000, Blätter 1345 Orsières oder IGN Carte de Randonnee, 1:25.000, Blatt 3630 OT Chamonix

Hütten:
- Cabane d’Orny (2831 m): Der kürzeste Zustieg führt von Champex mit der Seilbahn auf den La Breya und von dort in 2 h zur Hütte, schöner von Praz de Fort (ca. 5 h). Bewirtschaftet von Mitte Juni bis Mitte September, 90 Lager, Tel.: +41/(0)27/7831887, www.cabanedorny.ch
- Cabane de Saleinaz (2691 m): Erreichbar über einen unglaublich schönen, aber auch anspruchsvollen Wanderweg (T 5) von Praz de Fort bzw. Prise d’eau de Saleina (ca. 5 h). Bewirtschaftet Mitte Juni bis Mitte September, 48 Lager, Tel.: +41/(0)27/7831700. Achtung: Da das Hüttenteam von Woche zu Woche wechselt sind Französisch-Kenntnisse von Vorteil.
- Bivouac de l’Envers des Dorées (2983 m): Zustieg entweder über die Cabane Orny und den Col Droite des Plines (etwa 5 h) oder von Praz de Fort und die Cabane Saleina (6 h), 12 plus 11 Schlafplätze. Das Biwak besteht aus einem offenen und einem luxuriös eingerichteten Teil. Letzterer ist nur nach Anmeldung mit einem Schlüssel zugänglich. Den Schlüssel gibt es beim "Hüttenwart" Gilbert Maillard, erreichbar unter g.maillard@hispeed.ch oder Tel.: +41/(0)79/3796192 bzw. +41/(0)21/9218550.
Wer träumt nicht von grandiosen, einsamen Alpengipfeln mit abwechlungsreichen Routen in bestem Fels? Dazu noch eine gemütliche, leere Hütte ohne schnarchende Zeitgenossen? Gibt‘s nicht, Märchen-Gipfel, sagt ihr. Gibt es doch. Unsere Autoren haben genau das an den Aiguilles Dorées im Mont-Blanc-Gebiet gefunden.

Es gibt viele Möglichkeiten, das Ende eines Klettertages einzuläuten. Eine der schönsten beginnt mit dem zischenden Öffnen einer kalten Bierdose, an deren glattem Korpus Kondenswassertropfen die malträtierten Finger kühlen. Vor allem, wenn es – wie jetzt gerade – das einzige Geräusch in einem Meer aus Stille ist. Einem Meer aus Eis, Schnee und Granit auf rund 3000 Meter Höhe, das so weit vom nächsten Parkplatz entfernt liegt, dass es kaum jemand finden möchte. Und das, obwohl dort oben ein ganzer Keller kalter Bierdosen darauf wartet, als Klettertagsabschlussgetränk knackzischend geöffnet zu werden. Über dem Keller steht praktischerweise eine heimelig holzvertäfelte Biwakschachtel, drumherum ein Haufen Granitzinnen. Beide, Schachtel und Zinnen, machen es einem nicht einfach, liegen im hintersten Winkel der Schweiz, weit oberhalb des Ferret-Tals und nur wenige Kilometer von der Grenze zu Frankreich entfernt. Sechs Stunden dauert der Zustieg – mindestens. Sechs Stunden, in denen man 1700 Höhenmeter über Geröll, Eisenstifte, Metallsprossen, Schnee, Eis und Gletscherspalten erklimmt – und dem Sog einer komfortablen Hütte mit warmherzigen Wirten, leckerem Essen und großartiger Aussicht widerstehen muss. Sie liegt auf zwei Drittel der Strecke am "Weg" und dient als Basislager für die Besteigung zweier imposanter Felsnadeln, namens Clochers du Planereuses. Das adrette Paar ragt fast in Wurfweite der Hüttenterrasse der Cabane de Saleinaz kühn in den blauen Himmel und lockt mit feiner Granitkletterei, die je nach Route zwischen fünf und elf Seillängen beinhaltet.
Auch Herr Gantzhorn und ich wurden da schwach. Vier Stunden Aufstieg reichten uns für den Anfang. Außerdem tat uns das bewirtende Ehepaar ob der gerade herrschenden Gastlosigkeit leid. "Besonders viel ist hier ja nie los", sagte Daniela Nobs mit französischem Akzent, während ihr Mann Stufen in das steile Schneefeld vor der Hütte schlug. Fast so, als ob er verhindern wollte, dass – falls sich doch jemand hierher verirrte – er nicht fünf Meter vor der Terrasse wieder ins Tal rutscht.

Wir mussten also dort bleiben und nutzten die restlichen vier Stunden Tageslicht für eine schöne Tour auf den Grand Clocher du Planereuses namens Objektif Bitard. Eine mit 6c bewertete, wobei viele Seillängen deutlich leichter sind, Route, die nach acht Seillängen auf einem wenig gesäßschonenden Sporn endet – immerhin mit Aussicht auf den Saleinaz-Gletscher und die Zinnen, die wir am kommenden Tag erreichen sollten.
Eigentlich wollte ich das ja lassen, dieses Klettern in den Alpen. Es sprach zu viel dagegen: Hütten voller Heldenschwätzer, Schlaflagerschnarcher und miefiger Funktionskleidung, totgenagelte Routen, Gedränge am Einstieg und nicht zuletzt der Klimawandel, der immer früher im Jahr aus festem Fels gefährliche Geschosse und aus Firnzustiegen Geröllwüsten formt. "Ohne mich", sagte ich Herrn Gantzhorn, als wir wieder einmal von den guten alten Kletterzeiten schwärmten, "lass uns lieber ins Elbsandstein fahren". Doch das fand Herr Gantzhorn schon aus gesinnungsästhetischen Gründen vollkommen inakzeptabel. Er ließ nicht locker, versprach leere Schlafräume, hohe, steile, feste Granitzinnen, bestes Wetter, einen geschmeidigen Zustieg über Eis und Schnee und: Bier an jedem Abend. Damit hatte er mich.
"Und, zu viel versprochen? Das war doch heute ein Fest, oder? Fels in dieser Güte findest du sonst nur am Capucin, und da ist es wahrscheinlich nicht ganz so leer!", sagt Herr Gantzhorn in einem etwas zu triumphalen Unterton, nickt selbstbestätigend und macht zu allem Überfluss mit seiner nicht bierdosenbesetzten Hand eine ausholende Geste: "Hier steht niemand, außer uns, diese Biwakschachtel und die vielen grandiosen Zinnen". Viele hat Herr Gantzhorn natürlich schon längst bestiegen, auch die Überschreitung aller Spitzen, die zusammen den wild zerklüfteten Dorée-Grat bilden. Eine tagfüllende Mission, die am sechsten Grad kratzt und zudem Schnelligkeit und Ausdauer erfordert. Die braucht man auch, um eine der gratbildenden Zinnen direkt von unten anzugehen: Über eine der vielen Routen, die fast durchweg den 6. und 7. UIAA-Grad anschlagen und das 8 bis 13 genussvolle Seillängen lang. Gras, Gehpassagen, Geröll und anderen Unfug sucht man vergeblich. Dafür finden sich perfekt eingebohrte Standplätze und ein paar locker eingestreute Zwischensicherungen. Platz für Selbstgelegtes bleibt genug.

Doch trotz all dieser Reize, trotz Bierkeller und stabilem Hochdruckgebiet, sind wir hier im Bivouac l‘Envers des Dorées ganz allein – wie schon auf der Saleinaz-Hütte. Nur fehlen hier auch die Wirte und – glücklicherweise – der Handyempfang. Aber es gibt eine kleine Küche und den kühlen Keller... Im vorigen Jahrtausend auch als Weiterbildungsstätte angehender Bergführer errichtet, thront die schmucke Giebelhütte auf 2983 Meter oberhalb des Gletschers und bietet in zwei Räumen Platz für insgesamt 23 Personen. Während der rechte Raum mit 11 Plätzen unverschlossen bleibt, braucht man für den linken – den mit dem Bier und Gasherd – einen Schlüssel. Und den hatte Herr Gantzhorn natürlich besorgt.
Es ist ein Traum! Schnee bis zu den Einstiegen, warmer, fester Fels, kaum Wind, nur Sonnenschein und eine perfekte Aussicht. Natürlich, der Zustieg von Fort de Praz aus dauert, zumal man neben Seil und Gurt auch Keile, Friends, Helm, Steigeisen, Pickel und Proviant mitnehmen muss. Doch spätestens, wenn man auf der Natursteinplattenveranda des Biwaks steht und diese Türme sieht, die Aussicht auf den Saleinaz-Gletscher, die Aiguille du Chardonnay und – weit im Osten – den mächtigen Grand Combin, sind die Mühen des Aufstiegs im Nu vergessen. "Da ist unser Gipfel", sagt Herr Gantzhorn, umfasst die goldfarbene "Cardinal"-Bierdose mit beiden Händen – es ist die zweite –, dreht sie ein wenig in den Händen, um die geschundene Haut mit möglichst viel kühlendem Kondenswasser zu befeuchten und nickt Richtung Granitpfeiler, auf dessen Spitze wir noch vor wenigen Stunden saßen. Wohin wir dort oben auch blickten, sahen wir nur Gletscher, Schnee, Fels und blauen Himmel. Keine Menschen, keine Masten, keine Wegspuren, nur das Biwak als kleiner schwarzer Punkt.
Les Chants du Midi heißt die Route mit 13 Seillängen, die meisten im 6., einige im 7. Grad. Die schwerste Länge ist sicher die vierte, wo ein kräfteraubender Rissüberhang, neben dem ein Fixseil baumelt, den erst lauwarmen Bizeps aussaugt. Die schönste eine ebenso wacklige wie spannende Reibungskante.

Mit acht Seillängen kürzer, dafür noch schöner ist Dorées les Ballades. Nach einem Bilderbuch-Riss folgen eine fantastische, weitgehend selbst abzusichernde Rissverschneidung und ein leicht wackliger Quergang. Die restlichen fünf Seillängen führen durch griffige Platten auf einen Ausläufer des Dorees-Grats, von dem aus die Biwakschachtel und das kleine Klohäuschen zu sehen sind. Es wurde mit Schweizer Gründlichkeit auf solide Stahlträger und eine zirka 15 Meter hohe Metallröhre geschraubt durch die… lassen wir das! Auf jeden Fall gehört das Röhrenklo zu den schönsten Toiletten der Westalpen, auch wenn es nicht dem Arben-Biwak-Plumpsklohäuschen das – äh – Wasser reichen kann: Das steht vis-à-vis zur Matterhorn-Nordwand.
Für den letzten, dritten Klettertag an den Dorées hat uns Herr Gantzhorn einen echten Leckerbissen aufgehoben. Eole danza per noi, von Großmeister Piola im Jahr 1990 erstbegangen, zählt zum Feinsten, was ich in den letzten 30 Jahren klettern durfte: rostroter, extrem rauer Granit, der überall fest ist und großartige Strukturen ausbildet. Vor allem die letzten fünf Seillängen beinhalten so ziemlich alles, was die Finger zum Jucken bringt: fast blanke, bis zu 30 Meter lange Rissverschneidungen, griffige Platten und – zum krönenden Abschluss – ein sensationell ausgesetzter, aber kinderleichter Quergang. Oben wartet ein gemütlicher Gipfelplatz und danach eine großzügige Abseilfahrt – ohne Seilfresserspalten. Das Beste aber kommt auch wieder ganz zum Schluss, nach dem Klettern, bei Einbruch der Dämmerung: die kleine Biwakschachtel mit dem großen Bierkeller.
Aiguille de la Varappe (3515 m)

Eole danza per noi (6a+, 6a obl., 435 m, 12 SL)
Ein Traum aus goldenem Granit, Chapeau Monsieur Piola!
Material: 10 Expressen, Sortiment Keile und Friends (bis 3), Bandschlingen.
Zustieg: Vom Biwak führt ein mit Steinmännern markierter Pfad in Richtung Glacier Saleina hinunter. Die drei kleinen Türmchen am Gratende werden an ihrer tiefsten Stelle umgangen. Nach wenigen Metern auf der Seitenmoräne quert man über Schneefelder hinüber zum Fuß eines Gratausläufers, der die Südwände der Aig. de la Varappe in einen Süd- und einen Südwestteil trennt. Um diesen herum erreicht man den Fuß des Südwestpfeilers. Der erste Stand befindet sich am Ende einer Rampe, die man von links nach rechts bis zum Beginn eines wundervollen Handrisses quert.
Abstieg: Abseilen übe die Route und auf dem Zustiegsweg zurück zum Biwak.
Les Chants du Midi (6a+, 6a obl., 420 m, 13 SL)
Die direkte Linie durch die Südwand bietet anhaltende Schwierigkeiten mit teilweise exponierter Kletterei.
Zustieg: Wie bei Eole… bis zum erwähnten Gratausläufer und vorher rechts hoch zum Einstieg.
Abstieg: Abseilen über die Route.
Les Strapontin du Paradis (6a, 5c obl., 450 m, 14 SL)
Trotz der etwas geringeren Schwierigkeiten ist die Route nicht zu unterschätzen (große Hakenabstände, schwierige Wegfindung, problematischer Rückzug).
Abstieg: Über Les Chants du Midi abseilen.
Aiguille Sans Nom – Promontoires (ca. 3250 m)
Tajabone (6a, 5c obl., 260 m, 7 SL)
Einfach nur schön! Aufgrund der Kürze eine prima Route zum Aufwärmen.
Zustieg: Vom Biwak führt ein mit Steinmännern markierter Pfad in Richtung Glacier Saleina (Richtung der Nordwand der Aiguille Argentière) hinunter. Die drei kleinen Türmchen am Gratende werden an ihrer tiefsten Stelle umgangen. Um zu den Wänden der Aiguille Sans Nom zu gelangen hält man sich direkt nach dem tiefsten Punkt nach rechts und steigt über die Seitenmoräne bergan, bis die rote Triangel des Promontoire in Sicht kommt. Der Einstieg befindet sich links einer Rinne am Fuß einer grauen Rampe.
Abstieg: Abseilen über die Route.
Dorées les Ballades (6a, 5c obl./A0, 250 m, 8 SL)
Wunderbarer Alpinklassiker mit überschaubarer Länge.
Zustieg: Wie bei der Route Tajabone bis unter die markante, Dreieck-förmige Felsformation des Promontoire. Der Einstieg von Dorées les Ballades befindet sich etwa 50 Meter rechts der Rinne, die den Triangel vom unteren zentralen Wandteil trennt.
Abstieg: Abseilen über die Route.