Ich habe es echt satt. Aber sowas von. Die Frauenleier: Witchcraft ist eine Frauen-Tour. Die Mädchenvariante von Problem XY geht links über den großen Griff. Frauen sind die besseren Kletterer. Sie sind beweglich und können kleine Griffe festhalten. Und so weiter und so fort. Sauber wird unterschieden zwischen starken Jungs und geschickten Mädchen. Jungs sind stark, unsensibel, ehrgeizig, zielstrebig; Mädels sind schwach, sensibel, kompromissbereit, zögerlich.
Es gibt in unserer Welt eine Unterteilung in weibliche Eigenschaften und männliche Eigenschaften. In Männerberufe (hallo Maschinenbauingenieure) und Frauenberufe (hallo Grundschullehrerinnen). Und das, obwohl wir doch wissen, dass die Menschen verschieden sind, und eben viele Jungs schwach, sensibel und unentschlossen sein können und ebenso viele Mädchen mit Sensibilität oder Kompromissbereitschaft recht wenig am Hut haben. Obwohl wir das wissen, gelten die großen Schubladen weiter, die Aufteilung in "männliche" und "weibliche" Eigenschaften stimmt weiterhin – im Alltag wie im Klettersport.

Was daran schlimm ist? Nun, es ist nicht schlimm. Keiner stirbt daran, und es beschwert sich ja auch keiner, außer Emma und mir. Mir geht dieses Schubladendenken auf den Keks, es ist ein Zeichen geistiger Faulheit. Außerdem ist es diskriminierend. Und Diskriminierung ist doof, und zwar nicht nur, weil sie nicht politisch korrekt ist. Denn das Denken in Kategorien verstellt den Blick aufs Wesentliche – nämlich den Menschen.
Außerdem werden diejenigen in der falschen Kategorie offen oder unmerklich benachteiligt und so daran gehindert, ihr Potenzial auszuschöpfen. Beides sind Entwicklungen, die niemand nützen. Und drittens, wir gehen automatisch von falschen Prämissen aus. Schließlich sind nicht alle Jungs stark und ungeschickt. Nicht alle Frauen sind beim Klettern Technikwunder. Wir haben unterschiedliche körperliche Voraussetzungen, andere Stärken und Schwächen, und vielleicht auch andere Ziele.

Aber am schlimmsten – das ist jetzt zwar nicht gerade schwesterlich-solidarisch von mir, aber ich finde sie wirklich schlimm – sind Frauen, die von ihrem Freund zum Klettern mitgenommen werden und sich mit Topropen begnügen. Ich spreche hier nicht von Anfängern, die ihre ersten Schritte tun, sondern von Menschen, die seit Jahren klettern. Eben Toprope-klettern. Vielleicht haben sie Angst, oder einfach nur keinen Ehrgeiz, selbst am scharfen Ende des Seils zu klettern. Es ist ja auch nichts dabei, wenn Hans für Irene eben schnell das Seil einhängt, die Schlingen hochbringt, die Bewegungen ansagt.
Nur eben, dass Irene es nicht selbst lernt. Irene geht mit zum Klettern, und sichern kann sie ja. Und wenn Hans ihr Mist ansagt, dann klettert sie eben Mist. Ist ja der Mist von Hans, da kann Irene ja dann auch nichts für. Ich habe schon mehrere "Hans"-Typen darauf angesprochen, dass sie ihrer Irene nicht weiterhelfen, wenn sie nicht selbst denken darf beim Klettern, und die Anwort war stets: "Sie kann das aber (ohne meine Hilfe) nicht." Eine gemütliche Verquickung: Hans ist der starke Mach(k)er, der für Irene die Drecksarbeit macht und ihr galant hilft. Irene muss weder denken noch arbeiten und bewundert ihren Hans.
Die Mädchenvariante – Lieber Hans...
Lieber Hans, eigentlich geht es mich ja nichts an. Aber für meine Sache: Wäre es möglich, dass Irene es eben doch kann? Und vielleicht keine starke Schulter zum Dranlehnen-und-Toprope-Einhängen braucht, sondern einen aufmerksamen und sensiblen (hehehe) Sicherungspartner?
Und liebe Irene, es geht mich ja wirklich nichts an. Aber: Meinst du nicht auch, dass nur Scheitern kann, wer auch mal was versucht? Das Hans-und-Irene-Schema ist die vielleicht offensichtlichste "Rollenverteilung" der Geschlechter im Klettersport. Meistens schreiben wir diese Rollen weiter fest, obwohl wir es besser wissen.
Eines Abends in der Halle beobachte ich ein Päärchen: Sie steigt vor, solide kletternd, hängt das Toprope ein, er steigt nach, etwas unsicher noch. Allein, der Anblick hat mich verblüfft. Da drehen die zwei die übliche Rollenverteilung einmal um, eben jene Szene, die ich in ihrer Häufigkeit so tragisch finde...
Und – es ist mir etwas peinlich. Ich selbst, die doch die traditionelle Rollenverteilung vehement verachtet, habe sie schon akzeptiert – wie hätte ich sonst verblüfft sein können?

Es ist nicht so einfach, sich vom Denken in Geschlechterkategorien freizumachen. Auch ich bin davor nicht gefeit: Wenn ich mit Leuten bouldere, die stärker sind als ich, und ich ihren Boulder auch probieren möchte, dann definiere ich mir einen größeren Griff dazu – und schon ist die "Mädchenvariante" geboren. Und ich nenne sie auch so.
Auch am Fels, wenn die starken Jungs eben einmal einen weiten Zug machen, und ich stattdessen drei kleine Griffe dazwischen nehme – schwupps, wieder eine Mädchenvariante. Das Besondere an Mädchenvarianten ist vielleicht auch, dass sie für Jungs eben nicht einfacher sind, sondern nur für Mädchen. Ich hatte diesen Gedanken nie verfolgt, bis mir zwei gestandene männliche Kletterer eröffneten, es sei oft so, dass sie die Varianten ihrer (Kletter-)Partnerinnen nicht halten können.
Na gut, es gibt Unterschiede. Lassen wir sie mal gelten. Trotzdem: Fasst Mut, Irenes dieser Welt! Inzwischen weiß ich, dass auch Jungs manchmal eine Mädchenvariante finden. Nur wollen sie die – verständlicherweise – nicht Mädchenvariante nennen. Sie werten lieber den Boulder ab. So ist das eben mit den feinen Unterschieden.