Die Treppe, die in die Unterwelt führt, hat exakt 359 Stufen. 300 Meter hohe, senkrechte Felswände verwandeln den sonnigsten Tag in eiskalte Dämmerung. Im Magen ein wohliges Kitzeln, wenn man an den lotrechten Wänden hinunterspitzelt, um tief unten das Wasser in den »Strudeltöpfen« herumwirbeln zu sehen. Wie Handelsreisende früherer Tage sich wohl durch diese Höllenschlucht geschmuggelt haben? Und wie viele wohl nie wieder die Sonne gesehen haben? Nicht auszudenken!
Die Viamala. Jahrhunderte lang war sie der Schrecken aller Reisenden. Daher auch ihr Name, der »schlechte Weg«. Dort, wo sich der Hinterrhein bei Thusis 300 Meter ins weiche Schiefergestein hineingefressen hat, bauten die Säumer – die umtriebigen »Spediteure« des Mittelalters – im Jahre 1473 den alten Römerpfad aus. 250 Jahre lang wurden die Waren auf diesem wahrhaft schlechten Weg wie durch den Vorhof der Unterwelt transportiert.
Dann bauten die Bündner in den Jahren 1738 bis 1739 zwei Brücken – und die erste Straße auf der orografisch rechten Flussseite. Der schlechte Weg wurde besser und besser. Heute führt eine Schnellstraße mit fünf Brücken hoch über die Viamala. Aus dem Schrecken einstiger Reisender machte der Tourismus einen wohligen Nervenkitzel. Der Postbus hält direkt an der Schlucht. Und die Unterwelt kostet nur sechs Franken ...!

Die Viamala-Schlucht ist nur eine der Sensationen der Graubündner Bergregion »Viamala«. Der Hinterrhein entspringt am Rheinwaldhorn und legt fast 60 Kilometer zurück, bevor er kurz vor Chur – der ältesten Stadt der Schweiz – mit dem Vorderrhein gemeinsame Sache macht. Davor nimmt er aber noch das wilde Wasser des Averserrheins und der Albula auf. Der Averserrhein: Auch der ist für Superlative gut. Hoch oben im Averstal versteckt sich nämlich das 30-Seelen-Dorf Juf, mit 2126 Metern die höchstgelegene, ganzjährig bewohnte Siedlung Europas. Weiter unten wütet sich der Averserrhein durchs Hochtal, bevor er sich bei der Rofflaschlucht vor Andeer dem Hinterrhein ergibt. An der Rofflaschlucht lebte vor über hundert Jahren Christian Pitschen-Melchior. Der war besessen von der Vision, »seine« Schlucht zum Tourismusmagneten zu machen. Wie die Niagarafälle, die er einst mit eigenen Augen gesehen hatte und ihm eine »zündende« Idee bescherten. Sieben Jahre und 8000 Sprengungen später war es soweit: 1914 wurde die Felsengalerie durch die Rofflaschlucht eröffnet. Auch heute noch erlebt man auf dem Weg hinter einem Wasserfall hindurch diesen feucht-fröhlichen Nervenkitzel.
Aber nicht nur für Natur-, sondern auch für Kulturinteressierte bietet die Viamala-Region groß- artige Schätze: In Zillis lockt z. B. die Kirche St. Martin mit ihrer Bilderdecke aus dem 12. Jahrhundert. Und das sogenannte »Domleschg«, ein Tal in der Region Viamala – und das reichste Burgenland ganz Europas. Besonders sehenswert: die Burg »Hohen Rätien«. Sie thront auf einem markanten Felskopf 250 Meter über dem Nordeingang zur Viamala-Schlucht, an strategisch günstiger Position beim Zusammenfluss von Albula und Rhein. Es gibt also viel zu tun rund um den »schlechten Weg« Viamala! Und nach der Erlebnistour macht das warme Heilwasser des Mineralbads Andeer müde Knochen wieder munter.
Wer die Viamala, die Rofflaschlucht und viele weitere Highlights gebündelt erleben will, der schnürt am besten die Wanderstiefel und macht sich auf die viertägige Wanderung ins mediterrane Chiavenna in der Lombardei. Dieser kulturhistorisch interessante Wanderweg beginnt in Thusis und führt am Hinterrhein entlang über den 2115 Meter hohen Splügenpass. Daher heißt er auch »Via Spluga«.
Der Splügenpass ist ein historisch interessanter Übergang, der zweitausendjährige Transitgeschichte lebendig werden lässt. Bereits die Römer nutzten die direkte Verbindung gen Norden. Ihre Spuren sind noch heute allgegenwärtig. Seit dem Mittelalter verbinden sich hier – auf der direkten Route von der Lombardei bis nach Süddeutschland – die Schicksale der Rätoromanen, Walser und Lombarden. Über all die Jahrhunderte entwickelte sich der Splügenpass zur wichtigsten Alpentransitverbindung zwischen Süddeutschland und Oberitalien. Durch die Eröffnung des San-Bernardino-Tunnels weiter westlich verlor er jedoch ab den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder stark an Bedeutung. Aber die »Töfffahrer«, wie die Schweizer die Motorradler nennen, lieben den Splügenpass! Genauso wie die Weitwanderer auf ihrem Weg in die Wärme.
Ob in den dunklen Schluchten der Viamala und Rofflaschlucht oder auf dem Splügenpass, dem Tor in den sonnigen Süden – die Gegend am Hinterrhein lebt neben überwältigender Natur auch eine Jahrtausende alte Kultur. Sie ist mehr als Ferienland. Sie ist ein »Erfahrungsreich«!
Viamala - die besten Tourentipps

Die Viamala ist das Aushängeschild. Aber die Hinterrhein-Gegend bietet mehr! ...
Durch die Viamala
Diese einmalige Schluchtwanderung beginnt in Zillis (Bushaltestelle) und führt spektakulär durch die Viamala und nach einem Gegenanstieg hinunter nach Thusis. Rückfahrt per PostAuto.
Distanz: 11 km
Höhenmeter: 300 Hm
Tiefenmeter: 550 Tm
Gehzeit: 5,5 h
Viamala Canyoning
Geführte Schlucht-Touren durch die Viamala gibt es zwischen Juni und September jeden Donnerstag um 14 Uhr ab Thusis.
Dauer: 3,5 h, davon etwa 1,5–2 h in der Schlucht
Preis: 149 SFr.
Info: www.swissraf.ch
»Viamala Notte«
Vom 19. Juli bis 23. August 2018, immer donnerstags, gibt es »szenische Schluchtführungen«. Die Extrafahrt mit dem PostAuto startet um 19:45 Uhr in Thusis.
Preis: 39 SFr. inkl. PostAutoSonderfahrt, Schluchteintritt, Führung und Verpflegung
Info: www.viamala.ch
»Via Spluga« in vier Tagen
Dieser Kultur- und Weitwanderweg führt von Thusis über den Splügenpass bis hinab ins italienische Chiavenna.
Etappe eins: Thusis – Andeer (18 km/1240 Hm/6:30 h).
Etappe zwei: Andeer – Splügen (14 km/1080 Hm/5 h)
Etappe drei: Splügen – Isola (17 km/700 Hm/6 h)
Etappe vier: Isola – Chiavenna (18 km/160 Hm/6 h)
Distanz: 67 km Höhenmeter: 3180 Hm
Tiefenmeter: 3570 Tm
Gehzeit: 4 Tage
Naturpark Beverin
Vier Täler, zwei Kulturen, ein Park: Rund um den Piz Beverin (2998 m) lockt der 412 Quadratkilometer große Naturpark Beverin mit seinen tiefen Schluchten und glasklaren Bergseen. Hier trif man mit etwas Glück Graubündens Wappentier, den Steinbock oder »Capricorn«. Info: www.naturparkbeverin.ch
Graubündner Naturküche

Das Dörfchen Lohn (siehe Bild oben) liegt gut zehn Kilometer südlich von Thusis und zählt 51 Einwohner. Eine davon ist Rebecca Clopath. Auf ihrem Bio-Hof kreiert sie aus lokalen, biologischen und fairen Produkten außergewöhnliche Gaumengenüsse. In ihrem gemütlichen »Café Fortuna« auf dem Lichthof bietet sie hausgemachte Kuchen und Mittagsmenüs an.
Öffnungszeiten: dienstags und samstags, 11–18 Uhr
Info: www.rebecca-clopath.ch
MEHR INFORMATIONEN
www.viamala.ch
www.graubuenden.ch/ wanderregion-viamala