Gegenüber der Zugspitze, hing der Vollmond und leuchtete über dem Hochnebel, der die Almwiesen bedeckte. Die schroffen Gipfel glänzten rosarot, die ersten Sonnenstrahlen krochen in diesen Morgenstunden an den Bergspitzen vorbei und wärmten die Luft. Ein heißer Sommertag kündigte sich an. Um halb sechs Uhr morgens lief Ida-Sophie Hegemann durch diese Landschaft, die wie gemalt aussah. Sie rannte seit neuneinhalb Stunden, fast 80 Kilometer durch die Nacht. Die Hälfte hatte sie geschafft von dieser Königsklasse beim Zugspitz Ultratrail – 164 Kilometer mit 8.302 Höhenmetern nach oben und unten. Hegemann ist die unangefochtene Favoritin in diesem Rennen, eines der bekanntesten Gesichter in der Ultralaufszene und führte bei den Frauen.
Aber eine Blasenentzündung durchkreuzte Hegemann an diesem Tag ihre Pläne, ihr Magen rebellierte, ihr Körper kollabierte. An ein Weiterlaufen war nicht mehr zu denken. In dem Moment war ihre Crew für sie da, fing sie auf, als sie das Bewusstsein verlor, hielt den Tropf mit der Infusion.
Ein Ultra ist ein Abenteuer
Die Crew hilft beim Wechseln der Flaschen, die sich im Rennrucksack befinden, tauscht Stirnlampe gegen Sonnenbrille in der Früh, und muss "Gelassenheit und Gleichmut" mitbringen. Eva Maria Sperger ist ebenfalls Profiultraläuferin. Ihre Crew müsse aushalten können, dass es ihr bei einem Ultralauf auch mal nicht gut gehe, müsse dann total unaufgeregt bleiben. Und dass man bei einem Ultrarennen leidet, ist nahezu unausweichlich. Denn "irgendwann ist in jedem Rennen der Punkt erreicht, wo nicht mehr nur noch die Beine, sondern vor allem der Kopf eine entscheidende Rolle spielen", so Ida-Sophie Hegemann. In solchen Momenten müsse man sich besonders gut durchkämpfen können. Sie sehe diese Tiefen nicht als ein Hindernis, sondern als einen Bestandteil eines Rennens, dass einen nur stärker macht und ab wo das Rennen erst so richtig losgeht.
Beim Ultralaufen fasziniere Hegemann, die nach vielen Jahren im Bahn- und Straßenlauf 2017 zum Trailrunning kam, "dass man einfach immer wieder an sein Limit und darüber hinaus geht". Sie vergleicht das mit dem Leben: "Man stößt ständig an seine Grenzen und denkt, es geht nicht mehr weiter. Doch dann findet man neue Kraft und hat plötzlich das Gefühl, noch unendlich lang weiter laufen zu können", sagt Hegemann dem outdoor Magazin. Auch Sperger versucht mittlerweile, während der Rennen auf ihre Stimmung zu achten, ihrer Crew stets lächelnd entgegenzukommen und so das gemeinsame Erlebnis auch schon beim Laufen zu feiern.
Bei den großen internationalen Veranstaltungen verwandeln sich die kleinen Bergorte in den Alpen mittlerweile in Trailrunningfeste. Die Zuschauer stehen in den Gassen Spalier und entlassen Hunderte von Läuferinnen und Läufern in die Nächte. Angefeuert mit Kuhglocken, Cheering-Gruppen und knallen Feuerwerk. Auch Sylvie Geißler ist eine von den Athletinnen, die immer wieder an der Startlinie von den besonders langen Rennen steht. Geißler ist wie Hegemann und Sperger Profi in dem Ausdauersport und hat eine ganz besondere Faszination für die Rennen in der Nacht, wie sie uns verrät: "In der Nacht ist es ganz anders, total spannend. Die Nacht hat einen echten Abenteuercharakter und das macht mir wahnsinnig Spaß."
Kinderbetreuung, Essensplanung, mentale Stütze – mitten in der Nacht
Zwar laufen die Athletinnen und Athleten häufig stundenlang allein im Schein ihrer Stirnlampen durch die Dunkelheit, sie passieren aber auch nachts die sogenannten Verpflegungspunkte. Dort bekommen sie Getränke und Essen und Unterstützung durch ihre jeweiligen Crews. Menschen, die den Läuferinnen und Läufern häufig nahestehen und "auf die sie sich zu einhundert Prozent verlassen können", sagt Geißler. Und plötzlich wird der Einzelsport zum Teamsport. Auch das macht Geißler zufolge die "Ultras" aus.
Für Geißler ist die Crew aber nicht nur ausschließlich für sich selbst wichtig, um die Rennen finishen zu können. Ihr Mann, Marcel Geißler, ist ebenfalls Trailrunner und die beiden haben eine kleine gemeinsame Tochter. Sie muss während der stunden-, teils tagelangen Rennen dann ohne ihre Eltern auskommen. Dann übernehmen die Großeltern des zweijährigen Mädchens und kommen mit zu den Rennen, kümmern sich rührend um ihre Enkelin. "Ein Event für die ganze Familie", sagt die Ultraläuferin.
Ihr Vater unterstützt sie bei ihren Wettkämpfen nicht nur in der Kinderbetreuung, er ist auch ein essenzieller Teil von Geißlers Crew. Ihre Rennen planen sie im Vorfeld akribisch: Alle müssen genau wissen, welche Nahrung an welcher Verpflegungsstation gegeben werden soll, wann Geißler wo entlanglaufen wird – Hunderte von Kilometern werden minutiös durchgerechnet. Je eingespielter das Team ist, desto besser ist auch das Endergebnis. Denn sie können aufeinander eingehen, aufeinander aufpassen und an den Hilfsstationen schnell einschätzen, was der Athlet oder die Athletin braucht. Das kann wertvolle Minuten retten, manchmal über ganze Rennverläufe entscheiden. Auch mental. "Wenn du weißt, du läufst jetzt zu einer Station und da wartet jemand auf dich, das ist wahnsinnig schön", sagt Geißler. Sie erinnert sich an Rennen, in denen sie so stark war, weil ihre Tochter dabei war. Geißler wusste, dass sie ihre Tochter an manchen Hilfsstationen und später im Ziel sehen werde – und konnte sich mit diesem Gedanken durch das Rennen pushen: "Genau das macht einen Ultra aus, dass du nicht alleine bist."