In der ehemaligen Seilbahnstation am Helm bei Sexten befindet sich seit einem Jahr das Reinhold Messner Haus, initiiert und kuratiert von ihm und seiner Frau Diane. Was einst funktionale Infrastruktur war, soll durch Umnutzung zu einem Raum des Innehaltens, des Nachdenkens und des Erlebens werden – einem Beispiel für gelebte Nachhaltigkeit. Im Fokus stehen nicht nur die alpinen Grenzerfahrungen Reinhold Messners, sondern die großen Themen der Zeit: Umwelt, Natur, Mensch und die fragile Verbindung dazwischen. In Interview spricht der berühmte Bergsteiger über sein Projekt Horizonte und die Risiken des Bergsteigens.
Der traditionelle Alpinismus ist die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur ohne Zwischenfilter. Vor 30 Jahren begann sich das Klettern als eigener Sport abzuspalten. Mit Olympischen Spielen, mit Tausenden von Kletterhallen weltweit. Das ist ein Sport, der messbar ist, zum Teil mit dummen Äußerungen wie Speed Climbing in der Halle. Das ist lächerlich. Aber es ist ein Sport mit mehreren Disziplinen, ganz eindeutigen Regeln bis zu den Olympischen Spielen. Und das bleibt, weil es erfolgreich ist. Erfolgreich als Show im Fernsehen, mit Bergsteigen hat das null zu tun. Es findet in klimatisierten Räumen statt, nicht in der Natur. Seit 1990 kann man den Everest oder den Manaslu oder den Nanga Parbat im Reisebüro buchen. Und Investoren im Vorfeld beziehungsweise Reiseagenturen präparieren den Berg und bringen dann die Leute zum Gipfel. Mich beeindruckt das überhaupt nicht. Mich beeindruckt nach wie vor eine Seilschaft, die einen 6000er über eine neue, schwierige Route klettert, viel mehr als diese Xenon-Bergsteiger am Everest.
Das Wort Overtourism ist mir suspekt. Das gibt es in einigen Punkten, aber diesen Tourismus, den wir in den Alpen haben, wenn er nachhaltig gestaltet wird, der ist notwendig, um die Alpenbevölkerung zu ernähren. Wir haben 16 Millionen Menschen in den Alpen, und die können nicht Industrie machen, die können nicht konkurrieren, weil sie oben im Tal sind. Die müssen bei der Landwirtschaft oder beim Tourismus bleiben. Die Einnahmen müssen gerecht verteilt werden zwischen denen, die die Landschaft pflegen, die Basis des Tourismus, und denen, die die Hotels betreiben. Das sind die großen Fragen. Sie sind sozialer Natur.
In Südtirol haben wir die Zinnen, da gibt es Overtourism. Und am Pragser Wildsee ist es auch noch schlimm. Aber als man versucht hat, am Pragser Wildsee eine vernünftige Begrenzung einzuführen, haben die dortigen Investoren, die Bars, die Hotels, alles eingesetzt, um ihren Overtourismus weiter zu haben und zu vergrößern. Also ich hatte noch nie in meinem Leben ein Problem, dass ich zwischen vielen Menschen eingeklemmt nicht mehr wusste, wohin. Ich brauche nur 10 Minuten vom Steig weggehen. Da ist ein kleineres Steiglein, da bin ich für mich allein. Immer. Ich frage mich, wo die Leute überhaupt den Overtourismus sehen. Und es ist absolut dumm, in Bozen durch die Straßen zu laufen mit Schildern »Tourists go home«. Ihre Väter haben das Geld verdient und sie haben es heute, kriegen Hotels geschenkt von den Eltern. Und dann laufen sie herum: »Tourists go home!«
Das Problem ist nur, dass wir auseinanderhalten, das ist Tourismus, das ist Sport, das ist Abenteuer. Und alles, was ich jetzt gemacht habe, mit meinem neuen Projekt, ist der Versuch, den traditionellen Alpinismus als Vorstellung am Leben zu halten.
Ich habe ein eigenes Unternehmen gegründet, ein kleines, mit meiner Frau zusammen, Reinhold-Messner-Horizonte heißt es jetzt, mit dem wir unter anderem Vortragsreisen machen. Wir waren schon in Amerika, wir sind bald in Südkorea, wo ich Vorträge zum traditionellen Alpinismus halte. Der traditionelle Alpinismus ist das, was innerhalb von 200 Jahren an Haltung entstanden ist. Da gibt es nicht Regeln, sondern da gibt es eine Haltung. Und die ist entstanden, weil Menschen sich ganz einfach am Beginn sehr respektvoll, vorsichtig den Bergen genähert haben. Und das interessiert mich.
Ich habe gerade ein Projekt fertig gemacht, es nennt sich Reinhold Messner Haus. Die Museen sind gemacht und übergeben, es hat mit mir nichts mehr zu tun. Auch nicht, wenn da Fehler passieren, die offensichtlich sind. Ich habe es einfach abgegeben. Das Reinhold-Messner-Haus ist der Versuch, das Narrativ weiterzugeben, also das Narrativ zum traditionellen Alpinismus. Ich komme in diesem Haus über das Erlebnis Berg zu den Grundfragen der menschlichen Existenz und sage, das Wertvollste, was das Erlebnis Berg bietet, ist die Übersicht. Unendlichkeit ahnen. Wenn ich durch die Antarktis gehe, wird die Welt eine andere. Vor allem wenn ich auf mich selbst gestellt bin, mit einem Partner dann sind wir wie eine kleine Kapsel, die wie im Weltall unterwegs ist.

Die Auseinandersetzung mit den digitalen Medien zum Beispiel, dass sich heute die jungen Leute alle verstecken können, wenn sie wollen. Die geben sich einen anderen Namen, zeigen sich, haten, tun, was sie wollen und machen die Welt unsicher. Wir wollen zum Beispiel verbieten, dass die Leute in unserem Haus das Handy rausnehmen. Dass die Leute lernen, das muss man nicht immer haben. Und vor allem muss man das einsetzen, dort, wo es nicht stört, wo es nicht etwas kaputt macht. Weiteres Thema ist das Gleichgewicht in der Natur. Die ganze Wolfsproblematik in den Alpen. Dass wir die Wolfspopulation wieder einigermaßen ins Gleichgewicht bringen müssen. Dass es nicht so viele sind, dass die Bauern die Almen verlassen. Wenn die Bauern weiterhin so große Schäden haben bei uns in Südtirol mit dem Verlust durch die Wölfe – Schafe, Ziegen, Rinder, Kälber, Fohlen – dann werden sie die Landschaft nicht mehr pflegen. Dann werden sie nicht mehr auf die Almen gehen. Dann verstraucht alles und am Ende bricht der Tourismus ein. Von dem leben wir.
Alpinismus war immer schon Tun und Storytelling. Beides war gleich wichtig. Und ich habe von Anfang an auch darüber geschrieben, mittlerweile sind es mindestens 50 eigenständige Bücher. Und die sind mir heute genauso wichtig wie das, was ich getan habe. Und es ist ganz wichtig, dass wir erkennen, dass wir aus dem Gestern heraus eine Haltung übernehmen, für die wir verantwortlich sind. Und die sich natürlich weiterentwickelt. Die muss nicht die gleiche bleiben. Aber eine Grundhaltung ist, dass der Respekt vor den Gebirgen der Erde ein schier unendlicher ist, weil klar ist, dass traditioneller Alpinismus immer mit der Möglichkeit zusammenhängt, dabei umzukommen. Und wenn ich das rausnehme, die Möglichkeit umzukommen, ist es was anderes. Diese Einstellung teilen die alpinen Vereine nicht nur nicht, sondern halten mit allen Mitteln dagegen an. Wenn aber jemand nicht versteht, dass er in der Ortler Nordwand, wenn er raufsteigt, umkommen kann, dann sollte er bitte nicht bergsteigen.
Mein Schlüsselsatz lautet folgendermaßen: Das traditionelle Bergsteigen bedeutet: Wir gehen dorthin, wo man umkommen könnte, um nicht umzukommen. Bergsteigen ist die Kunst, nicht dabei umzukommen. Und es ist nur eine Kunst, wenn man wirklich umkommen könnte. Wenn ich das Umkommen können herausnehme, etwa in der Kletterhalle, weil ich von oben gesichert bin, oder an den großen Bergen, weil eine ganze Infrastruktur steht mit hundert und mehr Leuten am Everest, die dich da hinauf begleiten, dann ist es was anderes. Nicht schlechter oder besser. Ich habe nichts gegen das Klettern in der Halle, gegen das Wettkampfklettern, gegen Klettern als olympische Disziplin, aber ich wünsche mir, dass die Menschen unterscheiden: Das ist Alpinismus in seiner traditionellen Form und das ist Klettern in der Halle. Das ist Tourismus an den Achttausender. Das ist Skifahren an einer Infrastruktur. Beim traditionellen Bergsteigen sind schon viele verunglückt.
Die Erstbegehung der Jannu Nordwand zum Beispiel. Das waren die Amerikaner Matt Cornell, Jackson Marvell und Alan Rousseau in 2023. Die haben eine neue Route gemacht. Sehr, sehr schwierig. Und im alpinen Stil. Sie haben auch Seile gehängt. Aber sie haben im Großen und Ganzen dann, als es senkrecht und überhängend wurde, Stückchen für Stückchen, oft nur eine Seillänge am Tag, weitergemacht. Da ist die Exposition enorm. Mit der Präparierung der Piste fällt das wichtigste weg, das ist die Exposition. Nur wenn ich auf mich selbst gestellt, – also es können auch drei Leute auf sich selbst gestellt sein, oder fünf – im Gebirge unterwegs bin, weiß ich, wie verloren ich bin, wie klein ich bin und wie wenig es braucht, um zu einer Katastrophe zu werden.

Alex Krapp traf Reinhold Messner in Sulden, zu Füßen des Ortler.
Es war auch Glück dabei. Aber wer sein Glück zu sehr strapaziert, lebt in meiner Sparte nicht lange. Ich muss im Vorfeld abgleichen können, da habe ich einen Berg, der ist so hoch, die Wand ist so steil, so schwierig, so gefährlich. Kann ich das? Habe ich die Erfahrungen, den Gefahren auszuweichen? Habe ich die Fähigkeiten, das zu klettern? Habe ich die Ausdauer und vor allem habe ich die seelische Kraft, das durchzustehen? Dann erst kann ich losgehen. Ich habe Glück gehabt, ein paar Mal, nicht oft, ich kann es an einer Hand abzählen. Aber ich bin auch ein äußerst vorsichtiger Mensch. Je älter ich wurde, notgedrungen auch durch das Ungeschickte, das mit dem Alter zusammenhängt, umso vorsichtiger wurde ich.
Es gibt viele Bergsteigerfrauen, die allein geblieben sind mit Kindern. Das muss jeder für sich ausmachen. Da gibt es keine Regeln. Ich kann es nicht propagieren. Mein »Mord am Unmöglichen« ist ein Artikel, den ich geschrieben habe, der meine Haltung von 1968 rechtfertigt. Aber ich werde nie das extreme Klettern an den wirklichen Wänden oder das Höhenbergsteigen propagieren. Das kann ich nicht. Ich kann es im Grunde nicht verteidigen. Ich kann nur sagen, ich habe es getan. Wir haben ja einen Film gemacht zum Manaslu, die Tragödie 1972, das ist lange her. Wir hatten fast kein Foto-Material. Ich rufe diese Herrschaften, die noch leben, von damals zusammen und lasse sie ohne Regieanweisung miteinander reden und erzählen, wie sie das im Rückblick sehen. Und da kommt heraus: Was wir getan haben, ist nicht zu verantworten. Und der Professor Oelz sagt am Ende: »Aber wir haben es getan und wir stehen dazu.« Das ist auch meine Antwort in dieser Hinsicht.
Nein. Also ich war Felskletterer, Höhenbergsteiger. Ich war als Bub schon begeistert vom Klettern. Ich war vor allem in meinen 20er Jahren, als ich in den Dolomiten und in den Alpen viele neue Routen geklettert habe, an der Grenze des damals Möglichen. Das hat sich inzwischen natürlich weit gesteigert, aber immer im traditionellen Stil, also so wenig wie möglich Hilfsmittel. Und parallel dazu habe ich eben sehr früh angefangen, die alten Pioniere zu lesen, den Paul Preuss zu studieren und wie sie alle heißen. Dadurch habe ich eine bestimmte Haltung angenommen. Der traditionelle Alpinist weiß, dass er umkommen könnte. Und wenn der Alpenverein jemandem entgegenkommt und sagt, so kann man das nicht machen, das muss vermieden werden, die Leute dürfen nicht umkommen, dann sage ich, da soll niemand auf die Berge steigen. Ganz einfach. Aber wenn jemand auf die Berge steigt, wirklich auf die Berge steigt und nicht auf einer Skipiste runterfährt oder in der Kletterhalle unterwegs ist, dann riskiert er bei jeder Tour das Leben, bei jeder Tour. Und sonst hat er die Natur nicht verstanden. Die Natur ist absichtslos, die Natur ist nur da und sie hat unendlich viele Möglichkeiten, sich zu äußern. Sie wehrt sich nicht. Sie äußert sich. Aber meistens ist es dann zu spät.
Diese Option gibt es nicht. Sie ist keinen Gedanken wert.
Die junge Generation hat immer versucht, das, was die Alten für unmöglich erklärt haben, weiter zu treiben, besser zu machen. Und das wird auch weiterhin so passieren. Es gibt unendlich viele Klettermöglichkeiten weltweit, nach wie vor. Es gibt mehr Ideen, Linien, Routen, die gemacht werden können, als gemachte Routen. Es gibt nicht mehr viele Berge, die man erstbesteigen kann. Aber die Phase der ersten Besteigung des Eroberungsalpinismus, die ist seit 100 Jahren vorbei. Die gibt es gar nicht mehr. Das ist für mich unwichtig, ob ich einen Gipfel als Erster betrete oder nicht. Die Frage ist, wo steige ich hoch? Die Route, die ich selber wähle, und da gibt es an einem Tag nicht nur eine, sondern am Everest heute schon 16, 17, wenn es reicht. Und die nächste Frage ist noch, wie? Da habe ich viele Möglichkeiten auszuwählen. Wie will ich ein bestimmtes bergsteigerisches Problem meistern? Das ist die Frage. Und daran beurteile ich die Leute, nicht nach Zahlen oder nach irgendwelchen Regeln, sondern nur nach dem, was sie an Erfahrung im tiefsten Sinne mitbringen. An menschlicher Erfahrung.
Das hängt davon ab, wie es wird. Ich hoffe, dass ich diese Tour noch schaffe. Das ist jetzt alle Jahre offen. Aber es gibt offensichtlich viele Leute, die in meine Vorträge kommen wollen. Das muss einen Grund haben. Geschenkt kriege ich das auch nicht. Es gibt viele, viele Leute, die gerne so viele Zuhörer hätten. Und ich weiß auch, warum die meisten das nicht haben.
Weil sie einfach die Geschichten auf einer Ebene erzählen, die niemanden interessiert. Oder kaum jemand. Es interessiert niemand, ob ich am Everest drei Camps mache oder zwei.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg!
Im Netz: dreizinnen.com/de/die-bergbahnen/ reinhold-messner-haus