Interview mit Billi Bierling
Eine Garmisch-Partenkirchnerin lebt zeitweise in Nepal: Wie kam es dazu?1998 war ich das erste Mal in Nepal. Zu dieser Zeit habe ich mich schon an meinen ersten Sechstausendern probiert. Ich erinnere mich, dass ich damals in mein Tagebuch schrieb, wie sehr ich es hasse, bergauf zu laufen. Trotzdem habe ich mich in das Land verliebt und war von da an jedes Jahr dort.
2004 gab ich meinen Job als Journalistin in der Schweiz auf. Ich fragte die US-Amerikanerin Elizabeth Hawley, die große Himalaja-Chronistin, ob ich bei ihr in der Himalayan Database mithelfen dürfte. Seither arbeite ich jede Bergsteigersaison im Frühling und Herbst ehrenamtlich in Nepal und dokumentiere das Geschehen an den Achttausendern. Und es macht mir immer noch Spaß. 2016 habe ich das Amt von Miss Hawley übernommen. Mit 92 Jahren wurde ihr die Arbeit einfach zu viel. Im Januar 2018 verstarb sie, nachdem sie mehr als 50 Jahre Buch über die Expeditionen geführt hatte.
Ich bin die Networkerin und habe Erfahrungen an den Achttausendern gesammelt, mein Team – Tobi Pantel, Rodolphe Popier, JeevanShrestha, Sareena Rai und Yangee Feng – kennt sich mit den ganzen Details an den Routen und Gipfeln aus. Wir dokumentieren 472 Expeditionsgipfel Nepals, die meisten Besteigungen finden immer noch am Everest statt.

Früher haben wir versucht, noch mit jeder Expedition persönlich zu sprechen. Mittlerweile gibt es ein Online-Formular, das die Teilnehmer ausfüllen können. Wichtig für uns sind persönliche Angaben zu Alter, Herkunft und Geschlecht, hinzu kommen Infos zum Berg und der Route. Nach der Expedition erfahren wir von den Anbietern, wie viele Teilnehmer es geschafft haben, ob es Unfälle gegeben hat und jemand am Berg verstorben ist. Außerdem versuche ich mit so vielen Leuten wie möglich zu sprechen, zumindest aber mit denjenigen, denen eine Erstbesteigung gelungen ist. In den neun Jahren habe ich etwa 4000 Interviews geführt.
Mount Everest in Zahlen
Rekorde, Geld und Dramen: Das war in den letzten 70 Jahren am Everest los.
1,7
– so hoch war die Betreuungsschlüssel zwischen Gast und nepalesischen Guides in der Saison 2022, ein neuer Rekord.
8
Liter die Minute, so viel Sauerstoff liefern moderne Sauerstoffmasken an ihre Träger. Damit reduziert sich die Höhe merklich, am Gipfel um etwa 2000 Meter.
673
Menschen standen im Jahr 2022 innerhalb von zwei Wochen auf dem Gipfel, in etwa so viele wie seit der Erstbesteigung bis zum Beginn des Kommerzes in den 1990ern.
5 000 000
Dollar nimmt Nepal in der Rekordsaison 2023 allein an Permit-Gebühren ein. Eine Besteigungsgenehmigung kostet 11 000 Dollar, knapp 500 sind bereits vergeben.
450 000
Dollar lassen sich Gäste mittlerweile den vollen VVIP-Service bei ihrer Everest-Expedition kosten, inklusive Heliflügen, eigenem Arzt und drei Guides.
91
Jahre alt ist das letzte noch lebende Mitglied der ersten Everest-Expedition. Kanchha Sherpa lebt mit seiner Familie im Ort Namche Bazar im Khumbu-Tal.
Früher hieß es: "Wenn Miss Hawley dir nicht glaubt, dann warst du nicht auf dem Gipfel". Aber ich verstehe meine Arbeit noch heute so, dass wir Daten zusammentragen, ohne zu urteilen. Natürlich arbeiten wir dabei sehr genau. Wir haben zum Beispiel Kürzel eingeführt, die helfen, eine Besteigung richtig einzuordnen. So heißt es zum Beispiel "aviation assisted", wenn ein Bergsteiger eine Strecke ab dem Basislager mit dem Heli überbrückt hat.
Früher hieß es: "Wenn Miss Hawley dir nicht gkaubt, dann warst du nicht wirklich auf dem Gipfel".
Ich denke, wir liegen so bei 80 Prozent Vollständigkeit. Illegale Besteigungen gibt es zum Beispiel immer wieder. Ich erinnere mich an einen Südafrikaner, der ohne Permit am Everest war. Er hatte sein Lager am Pumori, einem Siebentausender in der Khumbu-Region am Everest. Er ist erst mit seinen Achttausender-Stiefeln durch das Everest-Basislager gegangen und hat das Lager dann auch in seiner kompletten Ausrüstung verlassen, um zum Pumori zu gelangen. Das hat die Leute stutzig gemacht. Er musste ins Gefängnis und sollte 20 000 Dollar bezahlen, am Ende waren es nur 2000 Rupien (14 Euro) und er konnte gehen.

Grundsätzlich stimmt es schon. Aber ich war selbst zweimal nur am Vorgipfel des Manaslu. Der Gipfelbereich sieht je nach Saison auch ganz verschieden aus. Im Nachmonsun bildet sich da oben eine große Wechte, die den Gipfel verdeckt. Ich persönlich habe nicht das Bedürfnis, noch auf dem wahren Gipfel zu stehen. In der Himalayan Database erkennen wir seit der Saison 2022 nur noch den "echten Gipfel" an. Was vorher war, können wir nicht ändern, und ich finde es auch nicht richtig, Geschichte umzuschreiben. Früher waren die Methoden zum Nachweis eingeschränkter. Heute zeigen GPS-Tracks an, bis zu welchem Punkt man gelangt ist, gerade wenn der Gipfelbereich ein Grat ist und man den höchsten Punkt bestimmen muss.
Ich war sehr überrascht, als mich ein Kanadier fragte, ob es viele Besteiger gäbe, die außer der Steigklemme auch einen Eispickel am Everest benutzen. Das hat er wirklich ernst gemeint, obwohl Pickel zur absoluten Grundausstattung beim Höhenbergsteigen gehören. Aber zum Glück entscheiden nicht wir über Rekorde, sondern die Zuständigen des Guinness-Buchs der Rekorde. In einigen Nationen bedeutet eine Everest-Besteigung besonders viel Prestige. Ich erinnere mich an eine junge Inderin, die erschöpft in Lager vier ankam, aber weitergehen wollte. Man rief ihren Vater an, der sie zum Umkehren überreden sollte. Stattdessen sagte er, dass sie auf den Gipfel steigen muss.
Eigentlich ist diese Entwicklung erstaunlich, weil ich als Kind eher faul war. Mein Vater hat mir damals 100 Mark angeboten, damit ich mit ihm um den Eibsee laufe. Heute jogge ich von Garmisch zum Eibsee und dann einmal rum. Ich liebe die körperliche Herausforderung. Deswegen gehe ich auch gerne auf Expedition. Man lernt tolle Leute kennen, ist in einer schönen Umgebung, in einer ganz besonderen Welt. Für mich steckt aber auch Neugierde dahinter. Damals am Everest wollte ich hochlaufen, um alles mit eigenen Augen zu sehen. Natürlich bekommt man dafür auch Anerkennung, es ändert, wie einen die Menschen wahrnehmen. Zuletzt war ich am Dhaulagiri 1 (8167 Meter) und bin "nur" bis zu Lager drei gekommen. Aber ich war trotzdem stolz auf mich, weil ich ohne Flaschensauerstoff unterwegs war.
Ich liebe die körperliche Herausforderung, deswegen gehe ich gerne auf Expedition
Ich bin Kommunikationsexpertin für die Humanitäre Hilfe der Schweiz, sozusagen deren Sprachrohr. Ich schreibe Berichte, Pressemitteilungen, kontaktiere Medien. Meistens arbeite ich projektgebunden und war schon in Pakistan, Jordanien, der Ukraine, Palästina und im Libanon. 2015 nach dem Erdbeben in Nepal war ich auch im Einsatz. Ich habe Heliflüge organisiert, Hilfe koordiniert, zudem ausländischen Medien Interviews gegeben. Solche Einsätze rücken die eigene Perspektive wieder gerade.
Das ist eine Entwicklung, die wir schon in den vergangenen Jahren verfolgen, 2019 war ein Rekordjahr mit insgesamt 857 Besteigungen. Es wird zwar immer gesagt, dass die Leute sparen müssen. Aber wenn sie den Wunsch haben, auf den Everest zu steigen, dann werden sie es tun. Der Berg wird ja auch immer zugänglicher. Das Wetter war bis Anfang Mai eher unsaisonal, es gab viel Schnee, und es war extrem kalt. Jetzt wird es zwar wärmer, aber dafür ist der Wind sehr stark. Ich habe gehört, dass die Lhotse-Flanke wegen des trockenen Winters sehr schneearm ist. An dem Blankeis werden sich viele Aspirantinnen und Aspiranten die Zähne ausbeißen. Es wird sich noch zeigen, ob es ein neues Rekordjahr sein wird.

Im Buch geht es um mein Leben mit den Achttausendern. Ich erzähle sehr ehrlich und persönlich von meiner Beziehung mit Miss Hawley. Ich habe sie sehr geschätzt, aber ich hatte auch etwas Angst vor ihrer strengen Art. Mein Buch liefert auch einen Einblick in die neue Art des Expeditionsbergsteigens. Für das Buch habe ich rund 50 Interviews geführt. Ich bin sehr glücklich, so vielen tollen Menschen begegnet zu sein. Wer in die Geschehnisse an den höchsten Bergen der Welt in Nepal eintauchen will, dem lege ich mein Buch ans Herz.
Das Fahrrad ist für mich das beste Fortbewegungsmittel überhaupt, obwohl man selbst in Kathmandu damit im Stau stecken bleibt. Was für Miss Hawley damals ihr blauer Käfer war, ist für mich mein mittlerweile 19 Jahre altes Fahrrad. Ich liebe es.
Die Nepalesen haben sich aus ihrer Trägerrolle emanzipiert. Sie dominieren den Markt an den Achttausendern.
Die Kommerzialisierung hat sich in den letzten Jahren intensiviert. Nirmal Purja hat mit seinem Projekt, 14 Achttausender in kurzer Zeit zu besteigen, einen ganz neuen Trend befeuert: nicht nur einen Berg pro Saison zu besteigen, sondern gleich mehrere. Das funktioniert aber nur mit Heliunterstützung. Mit Alpinismus hat das längst nichts mehr zu tun. Insgesamt hat sich mit den Massen und Rekordjägern das Höhenbergsteigen sehr verändert. Jedoch nicht nur zum Negativen. Die Sicherheitsstandards sind höher, und die Guides sind besser ausgebildet.Und die Nepalesen haben sich aus ihrer reinen Trägerrolle emanzipiert. Sie stellen die wichtigsten Expeditionsanbieter, machen eigene Erstbesteigungen, mehr als 70 der nepalesischen Guides haben die international anerkannte Bergführerlizenz (IFMGA), sie betreiben Selbstmarketing auf den sozialen Kanälen. Früher waren sie nur dabei, jetzt machen sie es selbst.
Everest-Meilensteine
In 70 Jahren hat sich viel am höchsten Berg der Erde getan. Was geblieben ist: die Lust auf Rekorde.

Erfolgreiche Erstbesteigung
Der Sherpa Tenzing Norgay und der Neuseeländer Edmund Hillary erreichten am 29. Mai 1953 gegen 11.30 Uhr den Gipfel des Mount Everest, in Nepal Sagarmatha genannt. Die Presse feierte die Besteigung als Eroberung des "dritten Pols".

Ohne Flaschensauerstoff
Am 8. Mai 1978 gelang dem Duo Reinhold Messner und Peter Habeler die erste Besteigung des Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Zwei Jahre später glückten Krzysztof Wielicki und Leszek Cichy die erste Winterbesteigung und dem Südtiroler Messner die erste Solobesteigung.
Der Kommerz beginnt
Anbieter wie Amical Alpin (Inhaber Ralf Dujmovits, der erste Deutsche, der auf allen 14 Achttausendern stand) und Adventure Consultants führten 1992 das erste Mal Gäste auf den Mount Everest. Seither gab es mehr als 11 000 Gipfelerfolge, mehr als 300 Menschen starben beim Versuch.
Höchste Mülldeponie
Etwa 30 Tonnen Müll liegen am Everest. Heute müssen Expeditionsanbieter 4000 Dollar Pfand hinterlegen, die sie nur zurückerhalten, wenn sie mit mindestens acht Kilo Müll je Bergsteiger ins Basislager zurückkehren. Zudem gibt es Clean-ups.
Nepalesische Dominanz
Seit etwa zehn Jahren dreht sich das Machtgefälle: Mittlerweile dominieren die Nepalesen das Geschäft am Everest. Der Erfolg von Nirmal Purja mit "14 Peaks" befeuert den Trend des "Peak Bagging", möglichst viele Achttausender-Gipfel in kurzer Zeit zu sammeln. Ohne Heli geht fast nichts mehr.