Essstörungen im Klettern
RED-S, die unsichtbare Gefahr

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Leichter werden und besser klettern? Das kann nach hinten losgehen. Essstörungen und die Energiemangelstörung RED-S unter der Lupe.

RED-S und Essstörungen im Bouldern und Klettern
Foto: Ralph Stöhr
In diesem Artikel:
  • Im roten Bereich: RED-S und Essstörungen im Bouldern und Klettern
  • Gewichtsmanagement für den Erfolg
  • Anorexia athletica
  • Diät mit Risiko
  • RED-S: Der Körper auf Sparflamme
  • Hungern für die Weltspitze
  • Interview mit Kader-Athletin Käthe Atkins
  • Was man über RED-S wissen muss

Ein paar Kilo leichter klettert es sich besser – so denken vermutlich die meisten von uns. Welch Risiko und Irrtum sich hinter dieser Annahme verbergen, wird deutlich, wenn man die Energiemangelstörung RED-S betrachtet.

In diesem Artikel:

Im roten Bereich: RED-S und Essstörungen im Bouldern und Klettern

"Mit Widerwillen biss ich in die von Schokolade überzogene Masse. Es war grauenhaft. Mir schien, als würde der Zucker wie Zecken über meinen Körper herfallen und sich im wehrlosen Gewebe festkrallen, um mich still und heimlich zu vergiften. Hoffentlich würde ich wenigstens morgen abends einen Weg finden, aufs Essen zu verzichten". So beschreibt die österreichische Spitzenkletterin Angela Eiter ihre Empfindung, als sie ungefähr 12-jährig auf einem Klettertrip von ihrem Trainer angehalten wurde, ein Stück Kuchen zu essen. Da war die heute 37-jährige Spitzenkletterin gerade ein Jahr geklettert, ihr Talent bereits offensichtlich. Das ehrgeizige Kind stürzte sich ins Training und tat alles, um in seinem neuen Tätigkeitsfeld Erfolg zu haben, ebenso, wie es in der Schule hauptsächlich Einser schrieb. In ihrem Trainingsumfeld "galt ein geringes Körpergewicht als eine der erfolgversprechenden Variablen beim Klettern," schreibt Eiter in ihrer Biographie. Also ließ sie Mahlzeiten aus, aß nur die Hälfte. "Manchmal startete ich ohne Frühstück in den Tag. Ein anderes Mal ließ ich das Mittagessen ausfallen oder es gab am Abend nichts. Ich las in Büchern und Zeitschriften alles über Ernährung, was ich nur finden konnte. (...). An manchen Tagen fiel mir meine selbstauferlegte Diät leicht, gelegentlich kämpfte ich mit dem Hunger. Aber mein Wille war stark."

Unsere Highlights
Angela Eiter klettert Planta de Shiva (9b)
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In ihrem Buch „Alles Klettern ist Problemlösen“ berichtet Spitzenkletterin Angela Eiter freimütig von ihrer Essstörung im Jugendalter.

Gewichtsmanagement für den Erfolg

Nicht erst mit der Professionalisierung des Wettkampfsports wurde das Schrauben am Körpergewicht zum Werkzeug der Kletterer. Schon Kletterpionier Stefan Glowacz nutzte kurzfristiges Gewichtsmanagement für seine Projekte: "So viel kann ich gar nicht trainieren, um den Vorteil zu erreichen, den mir das Abnehmen von ein paar Kilo verschafft," erklärte er schon vor Jahren. Doch ist es das eine, kurzfristig leichter zu sein – und etwas anderes, wenn man dauerhaft (zu) wenig wiegt. So argumentiert der norwegische Kletterer und Wissenschaftler Gudmund Groenhaug: "Ein relativer Kraftzuwachs durch Abnehmen steht uns nur für extrem kurze Zeit zur Verfügung. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass unser Körpergewicht per Definition zugleich auch unser Trainingswiderstand ist. Wie bei jedem anderen Training auch passen sich unsere Fähigkeiten an die Belastung an, die wir uns auferlegen." Niedriger Trainingswiderstand und potenziell drastische gesundheitliche Konsequenzen klingen nicht nach einer sinnvollen Strategie. Doch die Idee, dass leichter immer besser ist, gehört zu den tief verankerten Glaubenssätzen im Klettern, und neben dem Erfolg lockt das Idealbild des möglichst Schlankseins.

Anorexia athletica

Die von Angela Eiter geschilderte Magersucht bezeichnet man heute als Anorexia athletica, also als sportverursachte Magersucht. Überdurchschnittlich oft geraten weibliche Jugendliche in die Abwärtsspirale aus Kalorien einsparen und verbrennen, doch die Betroffenenzahlen unter anderen Geschlechtern und Altersgruppen steigen in den letzten Jahren und sind möglicherweise von hohen Dunkelziffern verzerrt. Sportler sind anfällig dafür: "Leistungssport ist leider ein Risikofaktor für die Entstehung von Essstörungen," erklärt die Sportpsychiaterin und ehemalige Schwimmsportlerin Dr. med. Petra Dallmann. "Für Sportler typische Eigenschaften wie sich quälen zu können tragen dazu bei." Dass Essstörungen im Klettern nicht ungewöhnlich sind, hat die Youtube-Doku "Light" der US-Fotografin Caroline Treadway gezeigt. Darin outen sich US-Kletterer wie Angela Payne, Emily Harrington und Kai Lightner, damit gekämpft zu haben.
Eine Studie von 2004 stellte fest, dass Spitzensportler mit 13,5 Prozent Anteil an Menschen mit gestörtem Essverhalten eine höhere Rate aufweisen als die Kontrollgruppe mit 4,6 Prozent. Das Profil vieler Sportler umfasst Eigenschaften wie Perfektionismus, Ehrgeiz, Motivation, Durchhaltevermögen, Disziplin und ein allgemein hohes Aktivitätslevel. Die starke Ausprägung dieser Züge verortet man just auf den Genen, denen man die Veranlagung für Anorexie zuschreibt. Eine Studie von 2020, die Sportkletterer untersuchte, attestierte bei knapp 500 Befragten 8,6 Prozent ein gestörtes Essverhalten, wobei 6,3 Prozent bei männlichen Elitekletterern und 16,5 Prozent bei den weiblichen Elitekletterern gemessen wurde. Diese Zahlen sind niedriger als in anderen schwerkraftabhängigen oder ästhetischen Sportarten, aber höher als die der Allgemeinbevölkerung. Vor dem Hintergrund, dass Essstörungen nach wie vor nicht komplett verstanden und mit einer sehr hohen Todesrate verbunden sind, sind diese Zahlen besorgniserregend.

Janja Garnbret European Championships IFSC Wettkampf
IFSC
Janja Garnbret hat in einem Interview mit der IFSC Position bezogen und die rhetorische Frage gestellt: „Wollen wir eine Generation von Skeletten heranziehen?“

Diät mit Risiko

Essstörungen entwickeln sich schleichend, können aus einer Diät, kurzzeitigem "Gewichtmachen" für einen Wettkampf oder auch aus unverdächtigen Ernährungsexperimenten mit Low Carb oder Clean Eating entstehen. Die sogenannte "Orthorexie", eine Fixierung auf den ausschließlichen Verzehr von als gesund definierten Nahrungsmitteln, wird als potenzielle "Einstiegsdroge" gesehen. Auch eine für den Sport optimierte Ernährung kann bereits einen Risikofaktor darstellen, in ungesundes Essverhalten zu geraten, da man dabei gewohnheitsmäßig den eigenen Appetit missachtet und beginnt, das natürliche Hungergefühl zu ignorieren. Auch phasenweises Mahlzeiten-Auslassen, Intervallfasten, kompensatorisches Sporttreiben, niedriges Selbstwertgefühl oder die Fixierung auf ein idealisiertes Körperbild sind Risikofaktoren. Doch auch ohne, dass sich eine ausgewachsene Essstörung manifestiert, können Probleme auftreten. Die britische Kletterin Mina Leslie-Wujastyk ging 2019 mit ihrer Geschichte von RED-S ("Relative Energy Deficiency in Sport", siehe auch hier) an die Öffentlichkeit. Sie aß etwas zu wenig, trainierte etwas zu viel, und die Waage zeigte eine Zahl im Normalbereich – trotzdem geriet ihr Stoffwechsel in den roten Bereich: Nach Absetzen der Pille stellte sie fest, dass ihre Periode ausblieb, ihr Hormonhaushalt war gestört. Die Ärztin Petra Dallmann betont: "Das ist ein eindeutiges Warnzeichen, dass man etwas ändern muss. Leider gibt es auch heute noch Gynäkologen, die es normal finden, wenn bei Leistungssportlerinnen die Monatsblutung ausbleibt, aber das ist es nicht. Das muss medizinisch abgeklärt werden." Bei Männern gibt es eine Entsprechung: Bleibt die Morgenerektion häufig aus, gilt dies auch als Warnzeichen, das etwas nicht stimmt. Eine medizinische Untersuchung ist ratsam, selbst wenn man nicht drastisch untergewichtig dabei ist.

RED-S: Der Körper auf Sparflamme

"Relativ" wird der Mangelzustand genannt, weil zumeist noch genügend Energie für die wichtigsten Dinge mobilisiert werden kann. Evolutionär gesehen sinnvoll, priorisiert der Körper Bewegung und fährt dafür Systeme herunter, die nicht zum akuten Überleben nötig sind. Bei Lebensmittelknappheit war es überlebenszuträglich, noch jagen gehen zu können oder vor dem Säbelzahntiger weglaufen zu können. Deshalb können trotz Mangel noch verhältnismäßig lange gute sportliche Leistungen erbracht werden.
Der Energiesparmodus des Stoffwechsels verändert verschiedene wichtige Systeme im Körper: Es verlangsamt sich der Herzschlag im Ruhezustand, der Hormonhaushalt veschiebt sich. Weitere Folgen können sein: Ausbleiben der Regelblutung, Verdauungsprobleme, Ermüdungsfrakturen und Osteoporose, Funktionsstörungen der Nieren und der Leber, Depression und weitere Folgeerkrankungen und -schäden.

Auch kognitive Einschränkungen finden statt. Eine betroffene Kletterin aus Berlin beschreibt: "Automatisierte Abläufe haben nicht mehr funktioniert, weil ich keine Energie mehr hatte, die zu bespielen. Ich war im Alltag ungeschickt, bin mit dem Kopf angestoßen, hatte kurze Blackouts, bin gegen Türrahmen gelaufen. Man ist kognitiv eingeschränkt. Deshalb hat mein Körper auch nicht angemessen reagieren können, als ich irgendwann beim Bouldern unvermittelt abgerutscht bin. Die Muskeln haben einfach nicht stabilisiert, und dann ist es passiert: Mein Kreuzband ist gerissen." Verletzungen am Sehnen-Band-Apparat werden in diesem Zustand auch deshalb wahrscheinlicher, weil dem Körper die Energie fehlt, die Trainingsbelastungen zu kompensieren. Dies kann auch passieren, wenn man sich, anders als in der Schilderung der Berliner Boulderin, noch relativ leistungsfähig fühlt.
Je nach Veranlagung können Sportler über Jahre in einem gravierenden Mangelzustand bleiben, erklärt Dallmann: "Es dauert teils erstaunlich lange, bis man die Quittung bekommt. Das macht es schwierig, genau zu erkennen wo die Grenze ist. Und dann können die Folgeschäden gravierend sein". Ist der Körper einmal an den Mangelzustand gewöhnt, ist es schwierig, aus den erlernten schädlichen Mustern auszubrechen, sei dies nun ein gestörtes Essverhalten, Sportsucht, Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brechsucht) oder eine Kombination aus verschiedenen Faktoren.

RED-S und Essstörungen im Klettern
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RED-S muss nichts mit Schlankheitsidealen zu tun haben, kann aber.

Point of No Return
Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass Magersüchtige ihr Essverhalten über andere Gehirnbahnen ansteuern als Gesunde. Doch dies ist nicht die einzige Erklärung dafür, dass viele Betroffene nicht einfach wieder mehr essen können, obwohl sie wollen; Mangelernährung lässt auch auf physischer Ebene die Spirale nach unten drehen. Zum Beispiel bekommen Betroffene oft Bauchschmerzen und Verdauungsprobleme, sollten sie versuchen, wieder normaler zu essen, weil dem Körper die Energie für die Verdauungsprozesse fehlt.
Forscher sehen die genetische Komponente von Essstörungen bei 50 bis 60 Prozent. Des weiteren brachte eine Studie an Ratten zu Tage, dass auch Nagetiere an einer Art Anorexie erkranken können, ganz ohne Erfolgsstreben, Schönheitsideale und sonstige Einflussfaktoren. In dem Experiment gaben Wissenschaftler Ratten nach einer Fastenphase wieder Zugang zur Nahrung. Während die meisten Ratten sich wieder ans Futtern begaben, kehrte ein kleiner Anteil der Ratten nicht mehr zum Essen zurück: Sie rannten sich in ihren Laufrädern zu Tode, wenn sie nicht aus dem Experiment entfernt wurden.
Der Sog des Abnehmens verselbstständigt sich also gewissermaßen bei manchen Individuen. Klar ist: Je früher man sich Hilfe sucht, desto besser stehen die Chancen, die Abwärtsspirale hinter sich zu lassen. Doch anders als bei einem veränderten Muttermal, das man abklären lässt, ohne sich dafür zu schämen, umgibt RED-S und psychische Probleme rund ums Essen ein Stigma. Der betroffene US-Kletterer Kai Lightner hat dazu eine Meinung: "Darüber zu sprechen, zeigt keine Schwäche. Das ist mit das Stärkste, was man tun kann."

Hungern für die Weltspitze

Dass Sportler vor sich und ihrem Ehrgeiz geschützt werden sollten, befürwortete jüngst die slowenische Topkletterin Janja Garnbret: "Bei Untergewicht sollte es eine Warnung geben. Und wenn sich beim nächsten Wettkampf nichts geändert hat, sollte man nicht antreten dürfen." Auch die deutsche Kaderathletin Käthe Atkins plädiert für strengere Regeln (siehe Interview unten auf dieser Seite). Ab 2023 werden bei offiziellen internationalen Wettkämpfen weitere Maßnahmen eingeleitet, wenn bei Athleten ein kritischer BMI gemessen wird. Der Body-Maß-Index (BMI) bezieht die Körpermasse (englisch mass, umgangssprachlich Gewicht) auf das Quadrat der Körperlänge und ist als grober Richtwert zu sehen. Ein BMI von 18,5 bis 25 gilt als normalgewichtig.
Der medizinische Betreuer des deutschen Nationalteams, Dr. Volker Schöffl, hat als Mitglied der Medizinischen Kommission des Wettkampfverbands IFSC daran mitgearbeitet, dass die Kontrollen bei Kletterwettkämpfen strenger werden. Bislang war das Prozedere: Die Teilnehmer des Halbfinals wurden gewogen. Lag der BMI unterhalb von 17,5 bis 18 für Frauen und 18,5 bis 19 bei den Männern gab es "einen Brief an den nationalen Verband mit Therapieempfehlung. Der musste unterschrieben vom Athleten und einem Arzt zurückkommen. Gebracht hat das aber nichts, weil irgendwer immer unterschreibt. Natürlich will keiner die besten fünf Weltcupteilnehmer aus dem Wettkampf herausnehmen," erklärt Volker Schöffl.
Das verschärfte System sieht ab dieser Saison vor: Bei kritischen Fällen gibt es einen Beobachtungszeitraum. "Liegen Athleten unter den kritischen BMI-Werten, wird vom jeweiligen nationalen Verband gefordert: eine medizinische Stellungnahme mit einem Ernährungs- und einem psychologischen Fragebogen ausgefüllt vom Athleten, eine sportmedizinische Beurteilung und einen psychologischen Bericht. Diese Daten werden dann von Fachleuten der Medizinischen Kommission der IFSC analysiert und daraufhin kann aufgrund einer Gesundheitsgefährdung eine Sperre empfohlen werden". Eine rechtliche Grundlage für ein Startverbot gibt es derzeit noch nicht. Auch im Deutschen Alpenverein will man die Problematik nun auf nationaler Ebene angehen, erklärt der Funktionstrainer für Bildung und Wissenschaft im Sportklettern beim Deutschen Alpenverein, Nico Schlickum: "Wir wissen, dass wir die Athleten vor ihrem Ehrgeiz schützen müssen. Deshalb haben wir eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben gerufen und sind dabei, ein mehrschichtiges Monitoring zu etablieren."

RED-S und Essstörungen im Klettern
Gemeinfrei Peter Paul Rubens
Schönheitsideale wandeln sich mit der Zeit. Diese Rubensfiguren gelten heute nicht als ideal, sondern schlanke bis dünne Menschen.

Komplexe Kletterei statt Ausdauer
Eine andere Schiene, die im Wettkampfgeschehen die Athleten beeinflusst, sind die Anforderungen im Routenbau, betont der Ex-Bundestrainer Udo Neumann. Dabei beruft er sich auf die US-Psychologin Jennifer L. Gaudiani, die feststellt: "Unterernährte Säugetieren sind nicht kreativ und spielerisch". Deshalb sieht er den Routenbau in der Pflicht, Boulder und Routen vom Stil her so zu gestalten, dass nicht allein die rohe Kraft oder Ausdauer entscheidet, wer gewinnt, sondern das volle Repertoire an kreativen Problemlösungsfähigkeiten abgefragt wird. Dafür würde auch sprechen, den Onsightmodus im Wettkampf beizubehalten, worüber gerade gestritten wird (s. Interview mit Kilian Fischhuber in klettern 2/23). Über kreative Bewegungsanforderungen zu gehen, könnte sogar zielführender sein, als sich aufs Körpergewicht zu fokussieren: Denn von Essstörungen Betroffene müssen nicht zwangsläufig untergewichtig sein, um unterernährt zu sein. Die fallen bei der BMI-Messung bislang durchs Raster.

Die Zeiten ändern sich
Immer mehr Kletterer sprechen darüber, wie sie in gestörtes Essverhalten geraten sind: US-Topkletterin Beth Rodden beschrieb auf ihrem Blog, wie sie für den Wettkampferfolg und einen unerreichbaren Idealkörper hungerte. Sasha DiGiulian beschrieb, dass sie lange brauchte, einen Körper zu akzeptieren, der nicht mehr der eines vorpubertären Mädchens war. Der Norweger Magnus Midtboe warnt auf seinem Youtube-Kanal davor und gibt zu, dass er in seiner Jugend das Problem hatte. Der 2019 in einer Lawine umgekommene Hansjörg Auer schilderte in seiner Biographie, dass er mit Magersucht gerungen hat.
Dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind, könnte Betroffenen dabei helfen, sich früher einzugestehen, dass sie überhaupt ein Problem haben. Fachleute wissen, dass Essstörungen eine Sache sind, die besonders Menschen mit ausgeprägter Arbeitsethik eher befällt: Die nötige Selbstdisziplin hat schlicht nicht jeder. Doch auch starke Menschen werden beeinflusst von Vorbildern, Trainern und Gesellschaft, und nicht zuletzt von den ungeschriebenen Regeln, die in der Kletterkultur fortgeschrieben werden. Deshalb betonen die Spezialisten der International Association of Psychologists in Climbing in ihrer Konsenserklärung zum Thema: "Trainer, Medien und potenzielle Vorbilder sollten darauf achten, wie sie über Essen und Gewicht sprechen". Petra Dallmann geht noch weiter: "Trainer sollten reflektieren: Muss eine Gewichtsabnahme wirklich sein? Wieviel Energie kostet das Abnehmen diese Athleten, die dann anderswo fehlt? Vor allem sollte man nicht automatisch den Leistungsbezug herstellen. Und wenn es wirklich nötig sein sollte, dann darf man das nicht als Spruch raushauen, sondern muss systematisch und mit fachlicher Betreuung mit Ernährungsberatern und eventuell Ärzten daran arbeiten und darf die Sportler nicht damit alleine lassen." Auch Dr. Isabelle Schöffl warnt: "Es kann einen Menschen für immer zerstören, wenn ihm im Alter von 15 Jahren gesagt wird, dass er leicht sein müsse, um klettern zu können."

Interview mit Kader-Athletin Käthe Atkins

Käthe Atkins
Marco Kost
Käthe Atkins begann ihre Kletterkarriere 2010 an den Felsen Nepals und gehört heute zur deutschen Plastikelite.
Käthe, auf Instagram hast du im Februar 2023 Gewicht und Gesundheit im Klettern angesprochen. Wie kam das?

Am Morgen davor hatte ich das Posting einer Kletterin aus einem anderen Land gesehen, das mich mitgenommen hat. Darin schilderte sie, dass ihr das Essen oft wochenlang schwerer fällt als das Training. Da machte ich mir Sorgen.

Ist es schwierig, im Leistungsklettern gesund zu bleiben?

Ich habe Glück, meine beste Freundin Leonie Lochner ist auch im Kader, und weil wir beide im olympischen Dorf wohnen, essen wir täglich zusammen und bestärken einander darin, dass es gut ist, genug zu essen und gesund zu bleiben. Früher hatte meine Mutter gedroht, mich aus dem Klettern rauszunehmen, wenn ich zu dünn werden sollte. Das hat gewirkt. Aber viele andere haben das nicht. Wenn man isolierter ist, dann ist es leichter, sich da hineinzusteigern. Ich kenne wenige, die sich nicht täglich mit dem Thema auseinander setzen. Dass das in die falsche Richtung losgehen kann, sieht man leider auch oft.

Wie verbreitet ist es denn?

Ich sehe immer wieder Kletterer. Ich bin auf Lehrgängen und bei Trainingsmaßnahmen nicht nur mit deutschen Athletinnen zusammen und sehe natürlich auch auf den Wettkämpfen viel. Ich kenne einige, deren Essverhalten meiner Meinung nach nicht mehr normal scheint. Da mache ich mir Sorgen.

Da wird das Gewicht extrem fürs Klettern manipuliert?

Ich bin nicht naiv, natürlich gehört zum Leistungssport auch Ernährungsplanung. Logisch ist das Gewicht eine von vielen Schrauben, an der man für Wettkämpfe dreht, ich mache das selbst ja auch. Und ich will auch nicht mit dem Finger auf jemand zeigen, weil die Person stärker ist als ich. Aber das nimmt teils schon extreme Züge an und ich weiß, dass viele damit hadern. Und es gibt welche mit nicht ganz normalem Essverhalten. Ich versuche immer, etwas zu sagen, wenn ich problematisches Verhalten sehe. Aber oft kommt man nicht durch. Deshalb wünsche ich mir strengere Vorgaben von außen. Auf Instagram hat eine Kletterin ihren Ermüdungsbruch geschildert, den sie beim Klettern beim Belasten eines Tritts hatte, und ohne Sturz oder Unfall. Das ist ein krasses Warnzeichen, aber womöglich zu spät. Wenn Menschen, die erstmal Erfolg mit der Taktik haben, vielleicht früher von außen medizinisches Feedback bekommen, vielleicht rüttelt die das dann auch früher auf.

Also strengere Kontrollen bei den Wettkämpfen mit BMI-Grenzen?

Gesperrt werden sollten natürlich nur Athleten mit so ungesundem BMI, dass klar ist, dass das nicht mit gesunden Mitteln zu erreichen ist. Um das zu verdeutlichen: Wenn ich einen BMI von 18 hätte, würde ich über zehn Kilo weniger wiegen. Bislang kam bei kritischem BMI ein Brief an den Verband, und das reicht nicht. Ich finde, es gibt Argumente dafür, Menschen mit einem BMI von 15 einfach zu sperren. Es gibt Athleten, die bei den Weltcups einen Brief bekommen, das hat aber gefühlt nicht viel gebracht. Da wünsche ich mir besseren Schutz. Wie soll man mit 18 Jahren und Erfolg sich selbst da rausziehen? Und dann steht sie mit 35 Jahren da und kann vielleicht keine Kinder mehr bekommen. Wir brauchen ein System, dass uns dazu zwingt, uns weltweit daran zu halten.

Ist es wirklich so schlimm?

Ich kenne Athleten mit Bulimie, Anorexie und welche, die es hatten und gelernt haben, dass es nicht immer funktioniert. Wir werden bei jedem Wettkampf im Halbfinale gewogen, und manchmal wiege ich halt mal zwei Kilo mehr als sonst, das kann allein zyklusbedingt mal passieren. Und dann denk ich: Ach nein, das kann nix werden. Dabei ist es so, dass wenn ich ein gutes Mindset habe, dann könnte ich vielleicht auch ein paar Kilo mehr wiegen und trotzdem was reißen. Zum Beispiel beim letzten Weltcup in Indonesien, der war am Ende der Saison. Da fand ich es schon schwer, mein optimales Wettkampfgewicht zu halten. Und ich bin dann mit dem Gewicht etwas hochgegangen, weil ich wusste, dass ich das sonst nicht durchhalte. Entsprechend zeigte die Waage in Indonesien zwei Kilo mehr als sonst, obwohl ich noch Magen-Darm-Probleme hatte. Trotzdem habe ich dort mein bestes Ergebnis eingefahren. Die Frage ist, ob es sich lohnt an der Gewichtsschraube zu drehen, weil es soviel Energie kostet. Und das ständige darüber Nachdenken macht mich einfach nur müde.

Käthe Atkins
Afra Hönig
Käthe Atkins (21) aus Frankfurt am Main, wurde 2023 in den Perspektivkader berufen. Das Interview gab sie aus dem Trainingslager in Tokio.

Was man über RED-S wissen muss

Ursachen, Risiken und Auswirkungen zum relativen Energiedefizit im Sport.

RED-S Symptome und Konsequenzen
IOC Medical Commission
RED-S hat Auswirkungen auf den gesamten Organismus. Ob man betroffen ist, muss von medizinischem Fachpersonal abgeklärt werden. Das Körpergewicht allein ist nicht aussagekräftig.

Relative Energy Deficiency in Sport, zu deutsch: relatives Energiedefizit im Sport, bezeichnet ein klinisches Syndrom, das aus einer niedrigen Energieverfügbarkeit als Folge von Übertraining und einer negativen Kalorienbilanz entsteht. Dabei können psychische Probleme sowohl das Ergebnis als auch die Ursache von RED-S sein. Die Kondition setzt meist schleichend ein, je früher das Problem erkannt und gegengesteuert wird, desto besser die Heilungschancen. Je länger der Körper zu wenig Energie verfügbar hat, desto größer die Gefahr, dass die Folgen nicht reversibel sind. Konsequenzen aus dem zu niedrigen Energielevel können individuell unterschiedlich aussehen – möglicherweise sind nicht alle der möglichen Symptome vorhanden (siehe Grafik rechts). Trotzdem drohen langfristig Konsequenzen wie Ermüdungsbrüche durch verminderte Knochendichte, Magen-Darm-Beschwerden, Vitaminmangel und Veränderungen im Hormonsystem (zum Beispiel ausbleibende Menstruation), die weitere Komplikationen mit sich bringen können. Auch bei geringer Ausprägung sind eingeschränkte Adaptation an den Trainingsreiz, reduzierte Leistungsfähigkeit und Gefährdung der allgemeinen Gesundheit wahrscheinlich. Diese Auswirkungen treten teils erst zeitversetzt ein und bringen daher das Risiko mit, verspätet bemerkt zu werden. Bleibt die Kondition unbehandelt, kann sie zum frühzeitigen Tod führen.

Weitere Informationen

Info für Sportler: Unter www.athletes-in-mind.de beantwortet ein Interdisziplinäres Team um die ehemalige Leistungssportlerin Dr. med. Petra Dallmann anonym und kostenlos E-Mail-Anfragen und berät zu Handlungsoptionen und Kontakten.

Allgemeine Informationen: www.bzga-essstoerungen.de

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10 / 2023

Erscheinungsdatum 12.09.2023