- Ab jetzt gibt es nur noch eine Richtung: Osten
- Die einfachen Dinge des Lebens am Truckstop
- Inspiration für deine nächste Radtour & mehr
Die galoppierende Inflation hat auch die Outdoor-Branche erfasst. Wer denkt, dass ein Radurlaub die ökologische, aber vor allem ökonomische Alternative zum Strandurlaub ist, wird spätestens beim Blick in die Preislisten der Rad- und Equipment-Hersteller eines Besseren belehrt. Zeit, sich nach einer alternativen Bezugsquelle umzusehen. Und so traf es sich gut, als ein Bekannter wissen wollte, was ich denn von den Aldi-Fahrrädern hielte, die da gerade für nicht mal 300 Euro im Prospekt angeboten wurden. "Ich schau mir das mal an."
Zwischen H-Milch, Kinderklamotten und Herrenpyjamas fand ich ein auf Retro getrimmtes Citybike. Sicherlich kein Stern am Fahrradhimmel, aber für den geforderten Kaufpreis tatsächlich ein Schnäppchen. Abends telefonierte ich mit meinem langjährigen Freund Daniel. Zusammen haben wir schon viele Radreisen unternommen, und als nächste Tour stand schon seit einer Weile die D4-Mittellandroute quer durch Deutschland auf der Liste. "Was hältst du davon, die Tour auf einem Supermarkt-Rad anzugehen? Einfach mal schauen, ob das machbar wäre?" Nach einer quälend langen Pause antwortete er fast schon euphorisch: "Klar, ich bin dabei! Aber dann lass uns gleich alles, aber wirklich auch alles, beim Discounter kaufen."
Ab jetzt gibt es nur noch eine Richtung: Osten
Abgemacht. Und so stand ich ab jetzt immer montags und donnerstags mit Rentnern und Hausfrauen in der Schlange, um frühmorgens die aktuellen Angebote einzusacken. Isomatten, Zelt, Packtaschen, Sonnenbrillen, Zahnbürsten, Schuhe und Unterhosen. Es dauerte ein paar Wochen, dann war alles für die große Reise quer durch die Republik beisammen.
Im Spätsommer ist es so weit: Wir fahren mit der Bahn nach A wie Aachen. Dort angekommen, besteigen wir im Billig-Partnerlook die bepackten 40-Kilo-Bikes. Ab jetzt gibt es nur noch eine Richtung: Osten. Neun Tage, mehr als 1000 Kilometer und 8000 Höhenmeter bis Z wie Zittau. Die hoffnungslos überladenen Drahtesel rollen gar nicht schlecht, zumindest, solange es eben bleibt.
Bergauf entpuppt sich die montierte Übersetzung dann sehr schnell als ausgesprochen optimistisch. Mehr als einmal lässt sich der Walk of Shame nicht verhindern und wir müssen absteigen und schieben.
Und schon am zweiten Tag, kurz vor Bonn, muss der erste kapitale Defekt ins Logbuch eingetragen werden. Meine Sonnenbrille ist irreparabel in der Mitte zerbrochen. Eigentlich ein klarer Garantiefall, aber von unserem Ausrüster zeigt sich weit und breit keine Filiale, weswegen ich das Vier-euroteil gegen ein Luxusmodell für zwölf Euro aus dem Drogeriemarkt ersetze.
Oft kommen wir in unseren Pausen mit Leuten ins Gespräch, das Interesse und die Hilfsbereitschaft fasziniert uns immer wieder. Die Bäckerin, die uns einen Laib Brot schenkt, oder die Mutter, die uns sogar einen Schlafplatz anbietet. Das Fahrrad ist das optimale Reisemittel. Schnell genug, um vorwärtszukommen, langsam genug, um die Eindrücke aus der Natur aufzunehmen und offenzubleiben für Begegnungen.

Daniel und ich wachsen immer mehr zu einem eingespielten Team zusammen. Nach wenigen Tagen haben sich die Abläufe beim Zeltaufbau so weit automatisiert, dass wir die 5-Kilo-Kunststoffkuppel, ohne Worte zu wechseln, gemeinsam perfekt aufstellen können.
Die einfachen Dinge des Lebens am Truckstop
Ein Spätsommertag reiht sich an den nächsten. Wir kommen gut voran. Obwohl wir täglich in einem Fluss oder See baden und auch unsere Polyestertracht auswaschen, nehmen die hygienischen Zustände langsam doch bedenkliche Formen an – höchste Zeit für eine gekachelte Wasserstelle.
Die finden wir am vierten Tag am Truckstop Bad Hersfeld. Nachdem wir dem Kassierer glaubhaft versichern, wir seien Fernfahrer, öffnen sich für uns Duschkabine zwei und drei. Warmes, fließendes Wasser! – Manchmal sind es eben die kleinen Dinge im Leben.
Nach unserer Wellness-Behandlung kommen wir zwei Nuancen heller aus der Dusche. Scheinbar war der dunkle Hautton doch nicht nur auf die UV-Strahlung der letzten Tage zurückzuführen.
Am fünften Tag unserer Reise wird es alpin. Der Kalimandscharo leuchtet weiß am Horizont, als wir die ehemalige innerdeutsche Grenze bei Herringen erreichen. Die 200-Meter-Erhebung ist eine Salzhalde des örtlichen Kalibergbaus und wächst pro Förderstunde um 900 Tonnen. Sogar geführte Bergtouren gibt es. Doch unser Bedarf an Höhenmetern ist gedeckt, wir verzichten auf eine Besteigung und machen stattdessen in der Lutherstadt Eisenach unterhalb der Wartburg Mittagspause. Wie eigentlich immer, wenn sich die Räder gerade nicht drehen, kümmern wir uns um Treibstoff. Zum Schönen an Radreisen zählt nämlich auch, dass es schier unmöglich ist, die verbrannten Kalorien direkt nachzufüllen. Und so bemerken wir auch abends gleich wieder ein leichtes Vakuum im Bauchraum. Google lotst uns ins Sportheim des SV Wandersleben e.V., der einzig geöffneten Gaststätte in einem für Radtouristen erreichbaren Radius.
Leider decken sich die Informationen aus dem Silicon Valley nicht mit der Realität der ostdeutschen Provinz. Unsere Hoffnung, nicht hungrig in die Schlafsäcke kriechen zu müssen, endet an der verschlossenen Eingangstüre. Wir sind schon wieder am Aufbrechen, als eine Dame die Türe öffnet und uns erklärt, heute finde die zugegebenermaßen etwas verfrühte Weihnachtsfeier des örtlichen Zumba-Klubs statt. "Wenn ihr kein Problem damit hättet, die einzigen Männer zu sein, seid ihr herzlich eingeladen, Essen gibt es genug."

Der Abend mit den Zumba-Damen schreitet ausgelassen voran. Nachdem wir den Kalorienbedarf einer Kleinstadt vertilgt haben, geht noch eine Flasche Aromatique an den Start, ein lokaler 40-Prozenter.
Glücklicherweise ist der Gatte einer Zumbatänzerin auch der Platzwart des angrenzenden Fußballfeldes – sodass wir direkt in das diesmal vielleicht nicht ganz so perfekt aufgebaute Zelt stolpern können. Morgens müssen wir die Verstellung unserer Aldi-Helme ein wenig aufdrehen.
Die folgenden beiden Tage bringen uns über Erfurt und Jena nach Chemnitz. Schlagartig wird es Herbst. Die Temperaturen fallen abrupt in den einstelligen Bereich, Regen testet Material und Moral. Zwar entpuppen sich die viel zu weiten Jacken und Hosen als so dicht wie eine Plastiktüte, leider haben sie aber auch die Atmungsaktivität der Tragetasche geerbt. Für uns gibt es nur noch zwei Zustände: Schwitzen oder Frieren. Auch die Nächte in unserem mittlerweile komplett durchnässten Zelt werden sportlich-frisch. Mit halbherzig vorgetragenen Motivationssprüchen halten wir die Laune in unserer Vier-Quadratmeter-Männer-WG hoch.
Auf dem Elberadweg geht es weiter nach Dresden. Als wir am "Blauen Wunder", wie die Loschwitzer Brücke auch genannt wird, vorbeikommen, hat der Himmel ein Einsehen und beendet den Beregnungsmodus nach drei Tagen. Das Thermometer an der Flussfähre in Heidenau zeigt sieben Grad.
Am letzten Tag ist dann zwar nun wirklich alles durchnässt, trotzdem steigt die Stimmung mit jedem der restlichen 80 Kilometer. Die Räder haben durchgehalten. Keinen einzigen Defekt gab es. Auch die Klamotten und das Campingzubehör können noch als brauchbar bezeichnet werden. Die Bikes werden sicherlich noch lange Jahre als Stadträder ihren Dienst tun.
Trotzdem sind wir uns sehr einig, die nächste Tour wieder mit Fachhandelsware unternehmen zu wollen. Die mangelhafte Passform der Kleidung und das astronomisch hohe Gewicht der Ausrüstung hat den Spaßfaktor teilweise schon etwas reduziert. Aber als die gelb-schwarze Zielflagge in Form des Zittauer Ortsschilds auftaucht, ist uns das erst einmal reichlich egal.
Die GPX-Tracks zur Tour: radroutenplaner-deutschland.de
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