Fast senkrecht führen die Eisenklammern auf der grauen Felsplatte nach oben: Leicht krumm und schief, teilweise verbogen, wirken sie wie die Sprossen einer etwas in die Jahre gekommenen Leiter. Zu ihrer Rechten lädt ein Drahtseil zum Festhalten ein. Es ist kurz nach acht Uhr morgens. Christian, Tom und ich warten, bis die Wanderer vor uns etwa drei Meter höher sind, nicken uns zu und steigen ein. Erst nacheinander beide Karabiner ins Drahtseil klicken, dann mehrere Sprossen aufwärts klettern. Klack, klack surr – klack, klack surr.
In diesem Rhythmus arbeiten wir uns zum ersten Highlight im unteren Abschnitt des Klettersteigs vor: die zwölf Meter hohe Leiter. „Ganz schön ausgesetzt“, denke ich, als ich hinaufblicke. „War das beim letzten Mal auch schon so steil?“ Insgesamt bin ich die Route von Hammersbach durchs Höllental auf die Zugspitze schon dreimal gegangen, das letzte Mal vor 14 Jahren. Ich frage mich, ob mich die Stelle damals auch so viel Überwindung gekostet hat. Ich richte die Augen auf die Felswand. Während die Hände konzentriert Sprosse um Sprosse greifen, lässt sich die Ausgesetztheit der Stelle gut ausblenden. Ganz anders beim „Brett“ etwas weiter oberhalb. Stahlstangen ragen hier nahezu waagerecht aus einer steilen Felswand und dienen bei der Querung als Tritte. Mit einem Brett hat die Stelle nur so viel gemein, dass man auf die Stifte wunderbar ein paar Bretter legen könnte. Das würde die Querung der Platte zwar um einiges leichter machen, aber auch viel unspektakulärer ...
Luftiger Balanceakt hoch über dem Höllental

Wir warten, bis die Gruppe vor uns mit Fotografieren fertig ist, dann balancieren wir am Drahtseil gesichert von Stift zu Stift. Unter den Füßen gähnen gut 100 Meter Luft, ehe tief unten die steil abfallenden Geröllfelder und Grashänge in den untersten Talgrund übergehen. Diesmal konfrontiere ich mich mit dem Tiefblick. Es funktioniert. Mit seinem wiesen- und latschenbedeckten, saftig grünen Boden und dem breiten Schotterbett des kleinen Hammersbachs wirkt der Höllentalanger von hier oben wie ein vergessenes Paradies.
Die insgesamt 2200 Höhenmeter umfassende Tour durchs Höllental gilt nicht umsonst als der abwechslungsreichste Anstieg auf Deutschlands höchsten Gipfel. Mit einer tosenden Klamm, zwei alpinen Klettersteigabschnitten und nicht zuletzt einem kurzen Gletscheraufstieg bietet sie an einem Tag – oder je nach Gusto auch auf zwei verteilt – ein breites Spektrum des Bergsteigens. Gefragt sind Allrounder, die Erfahrung im Umgang mit Gletschern und alpinen Felsstellen haben. Aber auch reine Sportklettersteig-Geher oder Mittelgebirgswanderer kommen hier voll auf ihre Kosten: in Begleitung eines Bergführers. „Das Geniale an dieser Tour ist, dass man bei ihr testen kann, ob einem das Alpine liegt oder nicht“, hatte Christian kurz nach unserem Aufbruch um halb fünf in der Früh am Wandererparkplatz in Hammersbach neben dem Bahnübergang gesagt. Christian ist Wiederholungstäter. Zu meinem Vorschlag, die Zugspitze durchs Höllental zu besteigen, hat er sofort Ja gesagt. Und seinen Freund Tom hat er auch noch mitgebracht, es ist immer gut, einen versierten Alpinisten dabeizuhaben.
Höllentalaufstieg zur Zugspitze

Heute Morgen sind wir um fünf beim Haus Hammersbach auf den Waldweg Richtung Höllentalklamm abgebogen. Während des Aufstiegs roch es dort nach feuchtem Waldboden, die Bäume verströmten eine angenehme Frische. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach, bis wir die Hütte am Eingang vom Höllental erreichten. Dort haben wir die Ein-Euro-Durchgangsgebühr für Alpenvereinsmitglieder gezahlt und sind dann dem schmalen Weg mit Drahtseilgeländer tief in den tropfenden und nassen Schlund der Schlucht gefolgt. Bis zu 150 Meter tief hat sich hier der Hammersbach über tausende von Jahren in die Kalkfelsen eingegraben. Das Geräusch der herabtosenden und brausenden Wassermassen vereitelt hier jedes Gespräch. Der Weg führt auf einem aus dem Felsen herausgehauenen Pfad zuerst am Wasser entlang und später durch etwa ein Meter schmale und zwei Meter hohe Tunnels über Treppen bergan. Kaum zu glauben, dass er schon vor über 100 Jahren angelegt wurde, ganz ohne Maschinenkraft!
Vorbei am Platz der alten Höllentalangerhütte

Überall rinnt kaltes Wasser herab – als wir aus dem letzten Tunnel ans Licht treten, sind wir wach. Christian und ich bleiben erst mal stehen. Steil ziehen zu unserer Rechten die Felsen zum Kleinen und Großen Waxenstein hinauf.
Gegen halb sieben erreichen wir den Platz, wo bis zum Herbst 2013 die alte Höllentalangerhütte stand. Jetzt empfängt uns ein terrassenförmig angelegter, dreistöckiger Bau mit Lärchenschindeln, die eine frische und freundliche Atmosphäre ausstrahlen. Christian und ich sind uns einig, dass wir bei unserem nächsten Höllentalaufstieg in dem neuen Haus übernachten werden. Tom lacht. „Jetzt bringen wir erst mal das hier zu Ende.“ Immerhin sind es noch 1600 Höhenmeter bis zum Gipfel ...
Altschneefelder im Juni

Viereinhalb Stunden später, um elf Uhr, stehen wir nach einem anstrengenden Geröllhatscher endlich an der Gletscherzunge und kramen unsere Leichtsteigeisen aus dem Rucksack. Als Tom noch ein Seil auspackt, bin ich es, die lacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass auf der Spur zum Klettersteig-Einstieg irgendwelche Spalten zu queren gewesen wären. „Das hat sich inzwischen geändert“, klärt er mich auf. Durch den Eisschwund lägen einige direkt am Weg, und es habe in den vergangenen Jahren immer wieder Spaltenstürze gegeben. Im Spätsommer, wenn der Gletscher aper und hart ist, kann man auf das Seil verzichten, weil die Spalten alle offen und sichtbar sind. Nach einer kurzen Essens- und Getränkepause stapfen wir als Dreierseilschaft durch den Altschnee auf dem hier noch flachen Gletscher aufwärts: Tom vorne, Christian in der Mitte und ich hinten. Bei den Spalten im Mittelteil des Gletschers steilt sich das Gelände auf. In einem anschließenden Rechtsbogen queren wir zu den Felsen, wo der zweite Abschnitt des Steigs beginnt.
Die Randkluft, der Übergang vom Gletscher zum Fels, ist jetzt, im Juni noch mit Altschnee gefüllt. Mit ihrer C/D-Bewertung (schwierig) gilt sie aber als Schlüsselstelle. Durch den Eisschwund ist die Stelle spätestens ab August unpassierbar. „Deshalb gibt es inzwischen links oberhalb eine neue Hauptroute“, erzählt Tom.
360-Grad-Panorama und Gipfelglück auf der Zugspitze

Tom sichert uns über die momentan quasi nicht vorhandene Kluft, dann klicken wir unsere Klettersteigkarabiner ins Drahtseil, und es kann wieder losgehen. Klack, klack surr – klack, klack surr. Auf einer felsigen Rampe queren wir nach rechts. Es folgt ein kurzes, einfaches Stück ohne Drahtseilsicherung, bevor wir über stufiges Gelände aufwärts steigen. In den Rinnen liegt auch hier noch Schnee. Klack, klack surr: Durch das abwechslungsreiche Gelände und konzentrierte Aufwärtssteigen vergeht die Zeit wie im Flug. Wir erreichen die Scharte im Riffelgrat und können auf die andere Seite hinunterblicken. Tief unten schimmert der Eibsee grünblau zwischen den dunkelgrünen Wäldern. Um seine kleinen Inseln herum leuchtet das Wasser türkis. Nach einer weiteren Schneerinne erreichen wir schließlich die Stelle, wo der Steig vom Jubiläumsgrat auf den Höllentalanstieg trifft. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Gipfel. Obwohl ich den Übergang von der rauen Felslandschaft zum touristischen Gewimmel auf der Aussichtsplattform der Zugspitze schon von anderen Besteigungen her kenne, bin ich überrascht. Der Gegensatz zwischen Bergstiefeln und Flip-Flops, Merinowäsche und Bikini oder Kleidchen ist einfach zu krass. Wir setzen uns mit dem Rücken zur Bergstation auf den felsigen Gipfel und freuen uns über das grandiose 360-Grad-Panorama, das von München im Norden bis zu den Zillertaler, Stubaier und Ötztaler Alpen reicht. Selbst den Großglockner, den Ortler und den Piz Bernina können wir ausmachen. Als ich das zufriedene Lächeln auf Christians und Toms Gesichtern sehe, weiß ich, dass wir nicht zum letzten Mal durch das Höllental aufgestiegen sind.
Noch mehr Impressionen vom Weg gibt es hier:





Alternativrouten auf den Zugspitz-Gipfel:
- Vom österreichischen Ehrwald wandert man über das Gatterl, einen Übergang aus Bergwiesen ins felsige Zugspitzplatt.
- In zwei Tagen führt die technisch einfachste Tour von Partenkirchen über die Reintalangerhütte hinauf zum Gipfel (2.962 m).
- Die normale Wanderroute vom Eibsee aus wird ab der Wiener Neustädter Hütte zum leichten Klettersteig.