Outdoor-Legenden: Bergführer Ulrich Inderbinen
Das Original vom Matterhorn: Ulrich Inderbinen

Ungefähr 370 Mal stand er auf dem Matterhorn, und als er 1990 zum letzten Mal den Gipfel erreichte, zählte er fast 90 Jahre. Der älteste aktive Bergführer der Welt zeichnete sich durch außergewöhnliche Leistungsfähigkeit, Bescheidenheit und Schlagfertigkeit aus – und durch eine gute Gesundheit. Er wurde 104 Jahre alt.

OD 2012 Mammut Buch Bergführer Legenden Ulrich Inderbinen hoch
Foto: Mammut

Geboren wurde Ulrich Inderbinen am 3. Dezember 1900 in Zermatt. Allerdings nicht in dem Zermatt, das wir heute kennen, sondern in einem kleinen Bergdorf, in dem die meisten Bewohner trotz des aufkommenden Bergtourismus Selbstversorger waren und von der Landwirtschaft lebten. So auch Inderbinens Eltern: Die Familie wohnte in einem einfachen, nach traditioneller Walliser Art gebauten Haus auf knappem Raum. Die zahlreichen Kinder schliefen im selben Zimmer und teilten sich das Bett. Wasser wurde im Dorfbrunnen geholt. Auf dem Speisezettel standen nur wenige, selbst erzeugte Produkte, und manchmal regierte der Hunger. Die Kinder erhielten an Ostern als Lohn für 40 Tage Fastenzeit eine Scheibe Wurst. Die Mutter versteckte den raren Zucker zuoberst auf dem Schrank. Medizinische Versorgung gab es nicht. Geboren wurde zu Hause, Krankheiten und Zahnschmerzen wurden ausgehalten, und oft führte bereits eine Grippe zum Tod. Medikamente waren unbekannt, und den Beitritt zur neu gegründeten Ortskrankenkasse, die zwei bis drei Franken Jahresbeitrag pro Person kostete, konnte Inderbinens Vater sich nicht leisten. Die Eltern wurden mit „Sie“ angesprochen und respektiert.

Unsere Highlights

Jedes Kind musste von Anfang an Verantwortung übernehmen und helfen, wenn es um das gemeinsame Überleben ging. Ulrich Inderbinen hütete bereits mit fünf Jahren die Kühe und Schafe, von deren Wohlergehen das Schicksal der Familie abhing, denn eine Kuh war damals ein kleines Vermögen. Er war auch für seine zwei Jahre jüngere Schwester Martha verantwortlich, die ihm sehr ans Herz gewachsen war. Um aber die Übermacht seiner Schwestern aufzuzeigen, sagte er später über seine Geschwister: „Wir waren drei Brüder, und jeder hatte sechs Schwestern.“

Als Achtjähriger ging er im Herbst jeden Morgen zu Fuss von Zmutt zur Schule und am Abend wieder zurück. Mit 13 verdiente er als Schafhirt 20 Rappen pro Tag, zahlbar an den Vater. Bis zur Gründung seiner eigenen Familie stellte er seine ganze Schaffenskraft in den Dienst seiner Eltern und Geschwister, so wie es damals üblich und für das Bestehen der Familie nötig war. Das Leben war von tiefer Religiosität und starkem Brauchtum geprägt. Jeden Tag wurde gemeinsam gebetet. Vor dem Verlassen des Hauses nahm man Weihwasser, vor und nach jeder Mahlzeit sprach man ein kurzes Gebet, der Besuch des Hochamts am Sonntag war selbstverständlich. Die Religion war für die Menschen eine Quelle des Trostes und der Kraft in ihrem harten Alltag.

Ein Leben lang konnte man Ulrich Inderbinen in der täglichen Frühmesse antreffen, so sicher wie den Pfarrer. Obwohl seine Jugend alles andere als einfach war, bezeichnete er diese Zeit als seine schönsten Jahre: „Früher war das Leben hart und schön. Alle besassen wenig, und jeder hat jedem geholfen. Die Menschen waren zufriedener als heute, wo man alles hat und nur an sich selbst denkt.“

Mit 18 Jahren verließ Ulrich Inderbinen Zermatt

Er verließ Zermatt um in einem Stollen in St-Maurice zu arbeiten, 10 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, bei einem Lohn von 90 Rappen pro Stunde. Die Arbeit war gefährlich, Gewerkschaften gab es nicht, und über die Gesundheit der Arbeiter machte man sich keine Gedanken. Umso grösser war Inderbinens Heimweh nach Zermatt und seiner Familie. Auch während der folgenden Jahre musste er im Winter regelmässig auswärts Arbeit suchen. Immerwährende Arbeit war damals ein Segen und nicht ein Fluch: Man lebte, um zu arbeiten, und das Wort Freizeit oder gar Ferien gab es im Vokabular der damaligen Zermatter nicht. Inderbinen kam nicht einmal dazu, eine eigene Familie zugründen. 1928 lernte er seine zukünftige Frau Anna kennen, doch zuerst hatten sie kein Geld, dann keine Zeit zum Heiraten. 1933 schliesslich gaben sie sich das Jawort, während der Frühmesse um 6 Uhr morgens, damit sie pünktlich zur Arbeit kamen. An Flitterwochen oder eine Hochzeitsreise dachte man nicht einmal. Im damaligen Zermatt bedeutete der Bergführerberuf eine der wenigen Einkommensmöglichkeiten, und so beschloss Inderbinen, Bergführer zu werden. Sein erstes Engagement als Träger sah vor, „einer Dame den Rucksack zu tragen, welche an sich genug zu tragen hatte“. In der Ausbildung wurden auch „Anstandsregeln“ vermittelt. 1925 legte er die Prüfung ab.

Die Zermatter Berge waren jedoch für ihn nicht nur eine Einnahmequelle, er liebte sie auch, und es gibt unzählige Gipfelfotos mit einem glücklichen Ulrich Inderbinen. Als leidenschaftlicher Kletterer – mit 70 Jahren durchstieg er noch die Watzmann-Ostwand – bewegte er sich am liebsten im guten Fels des Zinalrothorns oder Obergabelhorns. Auf diesen Touren waren weniger Leute anzutreffen, und er zog diese Ruhe dem Matterhorn vor. Es war ihm wichtig, seine Gäste nicht nur heil hinauf- und wieder hinunterzubringen, sondern ihnen auch die Liebe zu den Bergen zu vermitteln. Bis Anfang der Sechzigerjahre war es nicht einfach, als Bergführer engagiert zu werden, denn die beiden Weltkriege hatten den Tourismus fast zum Erliegen gebracht. Das änderte sich erst 1962, als das Bergführerbüro eröffnet wurde und der Bergtourismus einen Aufschwung erlebte. Endlich herrschte eine starke Nachfrage nach Bergführern. Für die Organisation wäre ein Telefon nützlich gewesen, doch der über 60-Jährige beschloss, dass es sich für einen so alten Bergführer nicht mehr lohne, wegen der paar verbleibenden Jahre eines anzuschaffen.

Video: 125 Jahre Matterhorn-Besteigung

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogenen Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzbestimmungen.

In den 80ern war Inderbinen noch immer aktiv

Doch in den Achtzigerjahren war Inderbinen immer noch aktiv – in der Zwischenzeit hätte sich das Telefon vermutlich amortisiert –, und allmählich realisierten die Medien, dass da ein über 80-Jähriger als Bergführer tätig und noch kein bisschen müde war. Als er 1982 erstmals am internationalen Bergführerskirennen teilnahm, entstand ein regelrechter Medienrummel, der Inderbinen für seine originelle Ausstrahlung und die für sein Alter ungewöhnliche Leistungsfähigkeit auch international bekannt machte. Einem Gast, der sich über sein Alter Sorgen machte, der dann allerdings nach der Tour selbst ziemlich geschafft war, sagte er einmal: „Wenn Sie langsamer laufen wollen, müssen Sie sich nächstes Mal einen älteren Bergführer suchen.“ Und als er an seinem 100. Geburtstag darauf angesprochen wurde, ob er Angst vor dem Sterben habe, meinte er: „Nein, wenn ich die Zeitung aufschlage, sehe ich kaum jemanden von meinem Jahrgang bei den Todesanzeigen.“

Mit 96 Jahren hängte er Pickel und Steigeisen an den Nagel, acht Jahre später starb er friedlich zu Hause. Obwohl er keine extremen Erstbegehungen gemacht und nie an grossen Expeditionen teilgenommen hatte, war er ein Bergführer par excellence gewesen. Er hatte das Jahrhundert mit geprägt und hinterliess eine Spur. Seine Gäste schätzten ihn als Freund. Er zeigte den Jungen, was einen guten Bergführer ausmacht und was das Wesentliche in seinem Leben war: nicht die eigene Person, sondern der Herrgott, die Natur und der Mitmensch.

OD 2012 Mammut Buch Cover
Mammut
Buchtipp: 150 years, 150 stories; Preis: 38,90 Euro

Der Text „Das Original vom Matterhorn“ stammt aus dem Mammut-Jubliäumsbuch „150 years, 150 stories“ das passend zum 150. Bestehen des Schweizer Bergsportausrüsters erschien. Zu diesem Anlass hat Mammut zusammen mit dem AS-Verlag 150 Geschichten bekannter Autoren zum Thema Alpinismus und Outdoorsport zusammengetragen. In dem faszinierenden Text- und Bildband werden auf 240 Seiten zahlreiche Aspekte des Bergsports beleuchtet. Die Beiträge stammen aus der Feder von bekannten Alpinisten, Journalisten und Insidern und machen den Band so zum absoluten Muss für lesehungrige Bergsportler – absolute alpine!

  • Herausgeber: Mammut Sports Group AG
  • Titel: Mammut 150 years – 150 stories
  • Erhältlich bei Mammut oder im Buchhandel
  • ISBN: 978-3-909111-87-9 (deutsch)
  • ISBN: 978-3-909111-88-6 (englisch)
Die aktuelle Ausgabe
07 / 2023

Erscheinungsdatum 06.06.2023