Patrick, Dicki, als wir uns das letzte Mal zum Interview getroffen haben, war Alex Megos noch 16 und eins seiner Ziel war, seine erste 9a zu klettern. Inzwischen gehört er zu den besten Kletterern der Welt. Ihr habt ihn trainiert. Seid ihr stolz auf ihn?
Dicki: Ja, das kann man schon sagen.
Patrick: Wir wollen uns jetzt nicht so präsentieren, als ob wir die einzigen Einflussfaktoren in diesem komplexen Gebilde wären. Aber das macht einen schon stolz, wenn man jemanden entdeckt und den dann so weit führen kann, dass er sich in der Weltspitze etabliert.
Dicki: Alex war auch der erste, den wir trainiert haben, wo es um ganz viele andere Sachen ging, inklusive dem Sprung ins Profi-Leben. Bei dem wir nicht nur gesagt haben, du musst 10 Klimmzüge machen oder 20. Das hat er selbst schnell gemerkt.
Ihr wart also seine Komplettbetreuer?
Dicki: Ja. Wir machen auch das Management für ihn. Wir organisieren alles, schauen die Sponsorenverträge durch. Darum beneiden ihn viele, dass er jemanden hat, der das für ihn macht.
Wie viel von Alex' jetzigen Kletterkönnen ist Talent und wie viel ist Training?
Patrick: Meine Einstellung ist die, dass meistens nicht die größten Talente so weit kommen. Sondern dass die weiterkommen, die am meisten Durchhaltevermögen und den größten Willen haben und die auch mal Niederlagen wegstecken können. Die also das haben, was man im Sport heutzutage als mentale Toughness bezeichnet. Wir sind bei Alex in der glücklichen Lage, dass bei ihm diese mentalen Eigenschaften und die körperlichen Talente – er hat eine besonders gute Ausdauer, er ist von seinen Körpermaßen gut geeignet – in idealer Weise zusammenkamen. Und er halt der eine unter 200.000 oder 300.000 ist, der es soweit bringen kann.

Ihr kennt ja fast die ganze Weltspitze persönlich, wie viele solche Ausnahmetalente gibt es?
Patrick: Die sind selten. Und dieses Talent über die Dauer weiter zu entwickeln, ist noch seltener. Wir haben auch die sogenannten Rising Stars, die gerade in jungen Jahren mit grenzenloser Energie, mit einer gewissen Frische und Unbekümmertheit in den Sport reinstoßen und da erst mal alles niederreißen. Aber jeder stößt irgendwann an eine Barriere, wo es nicht mehr darum geht, nur noch Bäume einzureißen. Sondern wo man erkennt: Ok, da ist es ja noch weit bis ganz, ganz oben. Da gibt es viele, die das mental nicht so gut wegstecken.
Dicki: Gerade wenn sie an diesen Erfolg gewöhnt sind. Den Topathleten zeichnet dann aus, dass er auch mal einen Niederlage wegstecken kann.
Patrick: Es gibt natürlich auch Leute, die haben das Negativtalent, sich häufig zu verletzen. Da muss man dann lernen, damit umzugehen. Das ist einfach deren Körperkonstitution. Wenn sich jemand jedes Jahr wieder das Ringband reißt, dann ist es schwer, das auf Dauer wegzustecken und dabei zu bleiben. Das kennen wir aus dem Profifußball. Da gibt es Superleute, die sich aber ständig verletzen. Eine gewisse körperliche Härte muss man schon mitbringen, um ganz oben mitzspielen.
"Ganz banale Muster" – wie man stärker wird
Gibt es denn Kletterer, die ihr gerne trainieren würdet? Wo ihr sagt, aus der oder dem könnte ich noch mehr rausholen?
Dicki: Da würde ich spontan sagen: die Japaner, die jetzt gerade im Café Kraft in Nürnberg zum Training waren. Also auch die Miho Nonaka, die Akiyo Noguchi. Die gehen sechs Stunden am Tag Bouldern, sind super fit, haben aber wenig Struktur im Training. Da könnte man sicher noch was rausholen. Das hat mich letzte Woche ziemlich bewegt, als ich das gesehen habe.
Patrick: Mir wäre da spontan Ashima Shiraishi eingefallen, mit der ich gerne mal trainieren würde. Man sieht gerade im Wettkampfbereich jetzt diese nächste Generation reinkommen. Wir haben letztes Mal bei den adidas Rockstars gesehen, die Megan Mascarenas aus den USA, die Janja Garnbret aus Slowenien, beide erst 16 und ganz vorn dabei. Es geht also weiter.
Wird der Sport denn immer jünger?
Patrick: Im Hochleistungssport sind ja in vielen Sportarten die jüngeren Athleten ganz vorne dabei. Wir sehen das im Turnen oder beim Eiskunstlauf. Der Trend geht auch beim Klettern dahin. In 5-Jahres-Mustern darf man da nicht denken, aber wenn ich jetzt einen 30-Jahres-Verlauf hernehme, ist deutlich zu erkennen, wie sich der Sport verjüngt hat. Da spielt nicht nur rein, dass die Jüngeren eventuell leistungsfähiger sind, sondern auch, dass man früher mit dem Klettern beginnt. Das darf man nicht unterschätzen. Insgesamt spielt der Klettersport den jüngeren Athleten gut in die Karten.
Dicki: Das Problem ist, wie geht man mit solchen Talenten um, dass die nicht mit 15 den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben, sondern das auch ins Erwachsenenalter tragen? Da fällt mir das sympathische slowenische Team ein. Die Janja Garnbret ist eine monsterstarke Frau, aber die geht nicht zu jedem Wettkampf. Die wird gezielt auch mal geschont. Andere, die auf jedem Wettkampf sind, sind mit 16 verheizt und haben keinen Bock mehr, sind übertrainiert, Ende.
Patrick: Es gibt es sogar wissenschaftliche Abhandlungen darüber, dass es in verschiedenen Phasen, die sich nach dem biologischen Alter richten, nicht Sinn und Zweck ist, die Athleten zu viel zu den Wettkämpfen zu schicken, sondern den Fokus eher auf das Training zuhause zu richten. Dass die Athleten da in ein Gleichgewicht kommen und nicht den Fokus nur auf den schnellen Erfolg in den Jugendligen setzen, sondern sich langfristig ausrichten.
Was wären die wichtigsten Trainingsprinzipien für den Durchschnitts-Kletterer, der so im sechsten, siebten Grad in der Halle unterwegs ist?
Patrick: Regelmäßigkeit und Progression sind die Basisprinzipien. Also schauen, dass man stetig seine Belastung im Hinblick auf Volumen oder Intensität erhöht und dass man einen Rhythmus in die Sache hinein bringt. Wenn man berufstätig ist und Familie hat, sind das zwei ganz schöne Hürden, die man zu überwinden hat. Regelmäßig heißt, ich gehe wirklich drei, vier Mal die Woche klettern, und das mache ich auch noch mit Plan und schaue, dass ich da eine Steigerung reinbringe. Das sind so ganz banale Muster.

Ihr habt 2013 mit "Gimme Kraft!" ein neues Trainingsbuch herausgebracht. Wie sind die Erfahrungen damit?
Dicki: Das ist ein totaler Renner geworden. Da haben wir überhaupt nicht mit gerechnet, das hat uns überrollt. Was ich so an Rückmeldungen kriege, ist, dass es supergut ist. Manche Anfänger beklagen sich, dass die Übungen zu schwer sind. Aber es gibt ja im Buch immer auch eine leichtere Variante dazu.
Patrick: Ich kann mich noch an unser erstes Video erinnern, "Genügend Kraft ist ein Zustand, den es überhaupt nicht gibt". Da gingen die Clickzahlen auf Vimeo nach oben und nach oben. Und nach vielleicht 200.000 Clicks haben wir uns gedacht: Mensch, da draußen gibt es eine nicht unerhebliche Zahl von Leuten, die Bedarf an so was haben. Und aufgrund dieses Bedarfs haben wir uns gedacht, lass uns das mal probieren und genau in dieser Sparte ein Buch schreiben. Manchmal hat man uns dann ein bisschen in die kraftlastige Ecke schieben wollen. So nach dem Motto: Die machen da ja nur Krafttraining für Outdoor-Kletterer.
Dicki: Aber das ist ja nur ein Teil unserer Arbeit, dieses Buch, einfach nur eine Übungssammlung.
Patrick: Wir hatten nie den Anspruch, die Trainingslehre des Kletterns zu schreiben, die es meiner Meinung nach noch gar nicht gibt. Sondern das Buch in eine Lücke reinzubringen, wo vorher nur Liegestützserien und Klimmzüge als Krafttraining oder Ausgleichstraining beschrieben waren.
"Muskelaufbau spielt beim Klettertraining keine Rolle"
Wenn ich Kraft trainiere, wie lange dauert es dann, bis sich ein merklicher physiologischer Fortschritt einstellt?
Patrick: Nehmen wir mal den Extremfall: ein ausgemergelter Athlet, der im Hochgebirge unterwegs war, wo viel von seinem Stoffwechsel über Protein-Katabolismus gelaufen ist. Der hat Muskeln abgebaut und fängt jetzt wieder mit dem Kraftaufbautraining an. Und ich gebe ihm die entsprechende Ernährung. Dann kann sich da in zwei Wochen schon sichtbar was tun. Weiterhin gibt es eine sehr gute Studie, die zeigt, dass bei Menschen im normal aktiven Zustand ein Muskelwachstum bereits in den ersten 20 Tagen einsetzen kann. Aber wohlgemerkt: Muskelwachstum oder Muskelaufbau spielt beim Klettertraining eine extrem untergeordnete Rolle.
Geht es denn beim Krafttraining nicht primär um Muskelzuwachs?
Patrick: Definitiv nicht, das spielt eine ganz untergeordnete Rolle. Es gibt Fälle, wo man einen Muskelaufbau empfiehlt. Entweder in der Leistungsmuskulatur oder der Nichtleistungsmuskulatur, beides ist möglich. Aber das sind die Ausnahmen.
Dicki: Wichtig ist die Funktionalität der Muskeln, dass die richtig arbeiten. Dass die Beweglichkeit da ist, dass die Muskeln schnell, explosiv arbeiten können. Dass sie umschalten zwischen langsam und schnell.
Also ist Kraft etwas anderes, als man sich landläufig darunter vorstellt?
Dicki: Definitiv. Wir verstehen da etwas anderes darunter.
Patrick: Es ist einfach erstaunlich und immer wieder neu faszinierend, wenn man Kletterer sieht und sich versucht, mit so einem Schubladendenken einen Typ vorzustellen, der dann dasteht, völlig austrainiert, niedriger Körperfettgehalt, ein Muskelrelief, dass einem Angst wird. Und dann kommt einer, den man in T-Shirt und Kletterhose gar nicht gesehen hat, und der klettert dem auf und davon. Und das ist vielleicht gar nicht so sehr der Gewichtsunterschied. Es kommt jedenfalls nicht primär auf die Größe der Muskeln oder auf das Unterhautfettgewebe an.
Aber das Gewicht spielt doch im Hochleistungsbereich schon eine Rolle, oder?
Patrick: Natürlich, 30 Prozent Körperfett hat keiner der Kletterer da draußen. Aber es kommt eher auf das Timing an, die Geschwindigkeit, mit der ich die Muskeln gleichzeitig enervieren kann, also meine Explosivität, und auf die Koordination der einzelnen Muskeln untereinander. Das ist viel wichtiger. In den letzten Jahren hat sich erfreulicherweise das Training in diese Richtung entwickelt, dass man weg von isolierten Übungen geht und hin zum zielspezifischem Training.
Dicki: Da sind wir wieder bei dem Punkt komplexes Training. Da versuchen wir, viel Bewegung und Kraft, also alles auf einmal, in eine Übung zu packen. Mit einer Übung erreiche ich möglichst viele Faktoren.
Patrick: Bei Sachen wie Fingerkraft haben isolierte Übungen schon noch ihre Berechtigung. Aber wenn ich jetzt sage, ich trainiere mit der Zugmaschine einarmige Blockierer, dann passt das schon nicht mehr.

Ist euer Buch Gimme Kraft denn noch auf dem letzten Stand?
Patrick: Der Stand im Buch ist State of the Art 2013. Der Stand heute ist schon wieder das nächste Level, die nächste Generation an Übungen. Wo uns die Athleten zurück melden, wow, das hat meine Bewegungsqualität echt verbessert. Es geht nicht mehr darum, dass ich sichtbar stärker geworden bin, dass ich jetzt statt vier sechs einarmige Klimmzüge kann. Sondern dass ich merke, ich klettere besser, es läuft insgesamt besser.
Dicki: Da wollen wir hin, das ist das eigentliche Ziel. Wir sind Trainer fürs Klettern. Und die vielen Faktoren, die dabei zusammen spielen, das gefällt mir so gut. Auch die Unterschiedlichkeit der Kletterer. Neulich haben wir mit Petra Klingler und Melissa Le Névé was gefilmt im Cafe Kraft. Unterschiedlicher geht es gar nicht. Melissa fast schon zierlich, und die Petra Klingler einfach viel muskulöser. Aber beide machen diesselben Boulder, haben diesselben Boulderziele. Das finde ich einfach super gut. Das ist auch gut für den Sport, dass es nicht nur so aussieht: Der Dünnste ist der Beste.
Video: Petra Klingler trainiert mit Patrick Matros
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Patrick: Ich glaube, dass wir beim Klettertraining nach wie vor in einem Beginner-Stadium sind. Es hat sich in den letzten Jahren viel getan. Ich habe eine Gruppe auf Facebook gegründet, wo sich international renommierte Trainer zu fachspezifischen Fragen austauschen. Man ist auch durch die Wettkämpfe besser vernetzt, bei den Athleten bildet sich schon relativ früh ein Erfahrungsschatz. Und die Wissenschaft beschäftigt sich auch mehr damit, es wird praxisorientierter geforscht. Wenn zum Beispiel in neueren Untersuchungen die Kontaktzeiten beim Bouldern und Leadklettern verglichen werden und man feststellt, dass Wettkampfklettern und Wettkampfbouldern von den anaeroben Belastungen her gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Das sind einfach interessante Dinge, die die Forschung da mit reinbringt.
"Ein fragwürdiger Trend" – die Toptrainer im Interview
Ist Seilklettern als Training überhaupt noch angesagt?
Dicki: Natürlich. Für den Lead-Weltcup nur mit Bouldern zu trainieren, wäre unmöglich. Seilklettern ist die Königsdisziplin. Ich sehe das immer noch so. Natürlich ist Bouldern super, Bouldern boomt, aber wir alle kommen ja eigentlich vom Seilklettern. Das ist das, wo unsere Wurzeln sind. Auf Wettkampfniveau ist das Training dafür halt viel stupider. Du musst ständig in andere Hallen fahren, um das Onsight-Klettern zu üben. Wenn ich da manche Athleten sehe: Die fahren jedes Wochenende in andere Hallen, rufen dort an, ob umgeschraubt worden ist, ein Aufwand ohne Ende. Und du musst halt wirklich viele Routen klettern. Beim Bouldern ist das ein bisschen entspannter. Auch das Training ist einfach lockerer.
Patrick: Es gibt schon Leadkletterer, auch Hochleistungskletterer, die schwerpunktmäßig bouldern. Aber du hast beim Leadklettern diese vertikal orientierte Komponente. Die Zugmuster gehen da einfach mal zehn Meter immer nur nach oben. Und du musst dich beim Leadklettern an bestimmten Punkten regenerieren. Das nur an der Boulderwand zu trainieren, ist sehr stupide und motivationsraubend. Da scheitern einige und sagen, dann gehe ich lieber gleich zum Bouldern.
Viele "Normalkletterer" glauben, dass das Training nur gut war, wenn sie hinterher völlig platt sind. Stimmt das?
Patrick: Das ist definitiv falsch. Du musst variieren, und zwar so, dass du in bestimmten Zyklen trainierst. Der kleinste Zyklus ist ein Tag, dann eine Woche, und dann geht es über Zwei- bis Mehr-Wochen-Zyklen und Monatszyklen bis zum Jahreszyklus. Wenn du jetzt von so einem Wochenzyklus ausgehst, dann sollte ein bestimmter Prozentsatz deiner Einheiten unter hundert Prozent sein. Wichtig ist, dass du da variierst. Dann hast du meinetwegen in der Woche eine 100-Prozent-Einheit, wo du dich richtig platt machst, aber auch ein bis zwei Einheiten, wo du nur 50 bis 60 Prozent deiner Kapazitäten forderst. Der Großteil der Leute trainiert eher so, dass sie sich chronisch überfordern. Und das meistens ohne Plan.
Wie äußert sich das planlose Training zum Beispiel?
Patrick: Beobachte mal in der Boulderhalle Otto Normalkletterer. Wo geben die alles? Die geben alles bei dem Zug, den die beiden Kumpels noch nicht geschafft haben, und jeder will das als erster schaffen. Da ist also die Intensität ganz hoch. Wo geben sie eher wenig? Bei der Arbeit an ihrer anaeroben Kapazität. Dazu müssten sie über die Dauer dieser Zwei-Stunden-Bouldersession möglichst effektiv und für die Unterarme anstrengend dranbleiben. Mit kontrollierten Pausen, aber so, dass sie da rausgehen und richtig dicke Arme haben. Aber das machen die wenigsten. Wir haben dafür Spielformen entwickelt, wo ich einen kleinen Miniwettkampf mit dem anderen aufbaue und unter permanenter Laktatbelastung stehe. Da steige ich in keinen Boulder frisch ein. Und das machen viel zu wenige.
Dicki: Hatte nicht Udo Neumann in einem Interview neulich gesagt, dass die Unterarme nie dick werden sollten beim Training?
Patrick: Ich kenne jetzt den Kontext nicht. Aber wenn man sich die Studien dazu anschaut, ist ganz klar, dass die Laktattoleranz eine wesentliche Größe ist. Und zwar nicht nur beim Leadklettern, sondern auch bei einem Boulderwettkampf. Du musst nur da rausgehen und dir das anschauen, wie die sich von Boulder zu Boulder nicht mehr regenerieren. Ein Kletterer, der mit zulaufenden Armen nicht umgehen kann, ist für mich wie ein Kajakfahrer, der auf einem ruhigen Fluss trainiert: Er lernt nie, seine Komfortzone zu verlassen.

Wie sagt ihr dazu, dass beim Bouldern immer öfter abgefahrene Kunststücke gefordert werden?
Patrick: Das ist ein bisschen ein fragwürdiger Trend, dass das Spielerische vom Bouldern in so eine Art Disziplin-Crossover rübergezogen wird, wo Bouldern auf einmal Parkour ist. Wenn man sich da draußen bei den adidas Rockstars die Boulder anschaut, sind wir zum Glück immer noch in einer Sportart, die ein klares Profil hat, und nicht in irgendeiner Zirkusveranstaltung, wo an schwingenden Elementen irgendwelche Kunststücke vollführt werden.
Dicki: Solche Übungen haben wir als Bestandteil unseres Trainings schon vor sieben, acht Jahren in der Turnhalle gemacht. Das kann man als Baustein einbauen, aber generell bin ich auch dagegen, dass das so vermischt wird. Sonst landen wir bei sowas wie American Ninja. Wobei ich geil finde, was die da machen. Aber das ist eine Sportart für sich. Und das bitte aus dem Klettersport rauslassen!
Patrick: Im Klettern geht es immer noch darum, irgendwo hoch zu kommen. Ich bilde seit mehreren Jahren Lehrkräfte aus, die mit Parkour auch im Unterricht arbeiten. Ich finde diese Sportart super. Aber auch die hat ein Profil. Und ich kann nicht einfach so eine Art Disziplinmischung hernehmen, und dann zur Begründung die Kreativität vorschieben. Kreativität ist im Klettern und Bouldern genügend da.
Wendet ihr euere Trainingsprinzipien auch auf euch selbst an?
Dicki: Grundsätzlich probieren wir es erst aus, bevor wir etwas in die Welt tragen. Und was mich angeht: Ich war immer eher so der Kleingriffkratzer und kann jetzt auch Sachen klettern, die ein bisschen athletischer sind. Und ich bin ja jetzt auch nicht mehr der jüngste.
Patrick: Das Faszinierendste für mich ist, dass ich festgestellt habe, wie viel effektiver ich trainieren kann mittlerweile. Mit viel weniger Zeit als früher kann ich mich doch auf so einem Niveau bis 8b halten.
"Nicht nur mit dem Gummiband trainieren"
Neulich war unsere Online-Redakteurin wegen einer Fingerverletzung beim Kletterarzt Volker Schöffl. Und traf dort auf Melissa Le Nevé und diverse andere bekannte Kletterer. Brauchen Spitzenkletterer alle schon ihren Leibarzt, damit sie noch funktionieren?
Dicki: Nein, die sind ja nicht ständig verletzt. Ich finde, es sind von den Profis relativ wenige, nach wie vor. Die Verletzungsgeschichten sind häufig Überlastungsprobleme. Weil die Kletterer einfach die Bremse nicht reinkriegen und ständig ballern, ballern, ballern. Und im Schulterbereich kommt es daher, dass sie immer noch so unausgewogen trainieren. Immer auf Zugschlinge, wenig auf Stützschlinge. Dann läuft die Schulter nicht richtig. Impingement-Syndrom, Rotatoren-Manschette, das sind Verletzungen, die sind dann vorprogrammiert. Deshalb sind wir große Fans von Ausgleichsübungen. Aber wenn man beim Wettkampf zuschaut, hat man das Gefühl, dass es fast die Schultern rausreißt. Diese Sprünge zur Seite, die man da abfangen muss, das ist schon extrem geworden in letzter Zeit.
Patrick: Der Mensch ist zu extremen und außergewöhnlichen Leistungen imstande. Und wenn ich das mit dem Turnen vergleiche: Was die reinen physikalischen Kräfte beim Reckturnen oder beim Ringeturnen angeht, sind wir beim Klettern noch ein Stück entfernt davon. Das hält der Körper aus. Beim Reck sprechen wir von Fliehkräften bis mehr als das vierfache Körpergewicht, die da bei so einem Giengersalto an der Reckstange auf die Handgelenke und die Schultern wirken. Und einarmige Giengersalti gibt es ja auch schon. Das ist noch ein Vielfaches von dem, was beim Klettern auf den Körper einwirkt. Ich denke, das ist noch in Ordnung. Aber es muss halt auch die entsprechende Karosserie da sein, um eine Knautschzone zu bilden.

Was sind die wichtigsten Maßnahmen gegen Verletzungen?
Dicki: Ausgleichstraining. Beim Klettern geht die Bewegung immer zum Körper hin. Mach auch mal was dagegen! Und nicht nur mit dem Gummiband trainieren. Das Ausgleichstraining muss in einer ähnlichen Intensität stattfinden wie das eigentliche Training. Wenn ich sehe, wie die Leute Klimmzüge mit Zusatzgewicht machen und dann mit dem Gummiband ihre Rotatoren-Manschette trainieren, da denke ich: Na ja, das passt einfach nicht mehr zusammen. Und eben auch Pausen machen, nicht nur immer draufhalten. Die Ruhezeiten gehören einfach zum Training dazu. Das Material muss sich erholen, wenn es ständig unter Belastung ist.
Gibt es denn diesen Rat noch, einmal im Jahr drei Wochen etwas anderes zu machen?
Patrick: Unterschreibe ich sofort, auch mental vor allem. Ist aber für manche verdammt schwer.
Dicki: Was für mich wichtig ist, wenn ich mit Athleten arbeite, ist: Wie nutzt du diese Phasen? Eine beliebte Frage von mir ist, wenn ich dir das Klettern wegnehme, was bleibt denn dann noch übrig? Was hast du noch für Hobbies? Denn das Klettern kann ganz schnell vorbei sein. Eine Fingerverletzung, und man ist weg von der Spitze. Dann ist es wichtig, dass man Sachen hat, die einen auffangen, sonst hat man gar keinen Sinn mehr im Leben. Deshalb sage ich immer: Hör mal drei Wochen auf, mach was anderes. Klettern ist gut und schön, macht uns allen super Spaß, aber es ist immer nur ein Teil von einem Menschen.
Danke Dicki und Patrick!
Fäcts: Die Gimme-Kraft-Toptrainer

Patrick Matros
- Diplom-Sportwissenschaftler, Lehrer, arbeitet als Fachdozent für Sportwissenschaft und Pädagogik/Psychologie.
- Jahrgang 1973, verheiratet, eine kleine Tochter.
- Klettert seit 20 Jahren. Bis heute hat Patrick knapp 200 Kletterrouten von 8a bis 8c klettern können. 2011 konnte er sich mit der Erstbegehung von Archon (8b, clean) einen Traum verwirklichen.
- Patrick ist Mitglied in der International Rock Climbing Research Association (IRCRA) und Autor mehrerer Sportfachbücher.
- Zusammen mit Dicki Korb gibt er europaweit Workshops und Fortbildungen zum Thema Klettertraining und betreut Athleten des adidas-Kletterteams. Auch ist er im Lehrteam Sportklettern der Bayerischen Landesstelle für den Schulsport und für den Deutschen Alpenverein als Trainer und Ausbilder aktiv.
Dicki Korb
- Dicki (Ludwig) Korb, 49 Jahre.
- Sportkletter- und Funktional-Trainer, Therapeut, Pädagoge.
- Verheiratet, 2 Kinder.
- Klettert seit fast 30 Jahren und hat Routen bis zum Schwierigkeitsgrad 11- geklettert und bis 10+ erstbegangen.
- Trainierte Alexander Megos seit den Anfängen gemeinsam mit Patrick Matros, mit dem er auch das Buch "Gimme Kraft" verfasste. Beide sind inzwischen die Teamcoaches der Internationalen Sportkletterathleten bei Adidas.
- Dicki und Patrick geben außerdem Workshops für Kletterer, Trainer und für Firmen wie Petzl oder Scarpa, daneben aber auch für alle Interessierten weltweit. Wie Patrick ist Dicki zudem für den DAV als Trainer und Ausbilder aktiv.
- Wenn sich die Gelegenheit bietet, ist Dicki immer noch leidenschaftlich am Fels zugange.