Verletzungsprävention beim Klettern & Bouldern
Geschlechtsunterschiede: Verletzungen im Klettern

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Kletterinnen erleiden andere Verletzungen beim Klettern als ihre männlichen Kollegen. Verletzungsverteilung und Gründe im Überblick.

Fingerverletzung Bouldern
Foto: Ralph Stöhr
In diesem Artikel:
  • Was wissen wir über Kletterverletzungen?
  • Geschlechtsunterschiede bei Kletterverletzungen
  • Wer verletzt sich warum?
  • Handgelenke und Füße
  • Wie der Zyklus die Verletzungsanfälligkeit beeinflusst
  • Soll ich zum Arzt gehen?

Rund 60 Prozent der Kletternden verletzen sich aufs Jahr. Neue Forschungsansätze beleuchten die Problematik – der norwegische Physiotherapeut und Kletterer Gudmund Groenhaug betrachtet, wer sich wann und wo verletzt und gibt Tipps, wie sich Verletzungen vermeiden lassen.

Was wissen wir über Kletterverletzungen?

Während der Recherche für mein Buch über Kletterverletzungen stellte ich fest, dass viele verfügbare Studien nur unzureichend danach unterscheiden, welcher Art die Verletzungen sind (akut versus chronisch), welches Geschlecht jeweils am meisten betroffen ist und welche Leistungslevel. Also führte ich selbst eine Umfrage durch. Teilgenommen haben 667 Kletterer aus Norwegen. 385 der Teilnehmer (58%) litten in den letzten sechs Monaten an einer chronischen Verletzung. Außerdem zeigte sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Unsere Highlights
Kletterverletzungen nach Geschlechtern
AlleFrauenMänner
Finger41,3 %29,9 %45,3 %
Schulter19,5 %21,9 %18,7 %
Ellbogen41,3 %11,5 %19,7 %
Handgelenk6,2 %12,5 %4,2 %
Fuß & Sprunggelenk6 %10,4 %3,8 %

Aus den Daten geht hervor, dass sich Kletterer und Kletterinnen sich an unterschiedlichen Körperteilen eher verletzen. Fragt sich, warum? Diese Unterschiede ohne weitere Untersuchungen zu intepretieren, ist etwas spekulativ, allerdings gibt es einige wahrscheinliche Vermutungen.

Geschlechtsunterschiede bei Kletterverletzungen

Wie die Daten in der Tabelle oben zeigen, verletzten sich in dem fraglichen Halbjahr männliche Kletterer fast doppelt so häufig wie weibliche Kletterer an den Fingern. Diese Verletzungen lassen sich zumeist dem Gelenk-, Kapsel-, Sehnen oder Bandapparat zuordnen und seltener den Muskeln. Die zwei Hauptgründe für Schmerzen in diesen Strukturen sind Druck und Spannung durch Zug (Stress). Die meisten Fingerstrukturen reagieren empfindlich auf Druck und passen sich langsam an die Belastung an. Die Fingerknochen sind zwar klein, können allerdings signifikante Belastungen verkraften. Wie stark der Druck auf die Fingerstrukturen inklusive Sehnen ist, hängt auch von der Belastung im Verhältnis zur Kontaktfläche ab. Da männliche Kletterer zumeist größer und schwerer als weibliche Kletterer sind, erfahren die Strukturen mehr Belastung. Wenn man annimmt, dass Fingerglieder von Kletterinnen 0,2 Millimeter kleiner als die von Kletterern, während letztere im Schnitt vermutlich mindestens 10 Kilogramm schwerer sind, dann lässt sich für die männlichen Finger eine um mindestens 25 Prozent höhere Belastung kalkulieren.

Fingerverletzung Klettern
Nicolas Altmaier
Beim Bouldern an der Trainingswand und an kleinen Griffen generell treten die höchsten Belastungsspitzen für die Finger auf. Die hier abgebildeten Finger hatten schon Jahrzehnte Zeit, sich an diese Belastungen anzupassen.

Die Unterschiede in den strukturellen Belastungen bei den Fingern könnten auch die Zahlen bei den Ellbogenverletzungen erklären. Diese entstehen zumeist aufgrund von Muskelzerrungen oder muskulärer Krafteinwirkung auf Sehnen oder den Übergang von Muskel zu Gelenk oder Gelenk zu Knochen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Fingerverletzung verstärkt.

Wer verletzt sich warum?

Ein weiterer Erklärungsansatz wäre, dass die männlichen Kletterer in der Studie auf einem höheren Leistungsniveau kletterten als die Kletterinnen. Höhere Klettergrade bedeuten höhere Belastungen und die Griffe sind üblicherweise kleiner. Dieser Ansatz klingt logisch, allerdings wird er von den Daten dieser Untersuchung nicht gestützt: Die am meisten verletzten Kletterer waren nicht die in den höchsten Schwierigkeitsgraden, sondern die im mittleren Bereich (UIAA 7+ bis 8+ sowie Fb 5C bis 7A+). Bevor diese Zusammenhänge gründlicher erforscht sind, bleibt also als beste Erklärung die unterschiedliche Belastung aufgrund der Größen- und Gewichtsunterschiede übrig.

Um diesen Verletzungen vorzubeugen, ist es wichtig, dem Körper genug Zeit zu geben, um sich an die Belastungen anzupassen. Dass ein Sehnen-Knochen-Übergang stärker wird, dauert rund sechs Monate. Daher sollte man langsam vorgehen und besonders anfangs den Fokus auf Technik anstatt Kraft legen. Diese Taktik ist ebenfalls ratsam, wenn man ein neues Kraftlevel erreicht hat: Plane eine Konsolidierungsphase ein.

Handgelenke und Füße

Meine Untersuchung ergab, dass Kletterinnen sich dreimal so häufig am Handgelenk und an Knöchel und Fuß verletzen wie männliche Kletterer. Da diese Untersuchung die erste ist, die nach Verletzungen nach Geschlecht aufschlüsselt, wissen wir nicht, ob dies eine zufällige Verteilung oder eine übliche ist. Allerdings gibt es belastbare Zahlen aus anderen Sportarten, bei denen Sportlerinnen ebenfalls drei mal so oft Schmerzen im Handgelenk und Verletzungen an den Sprunggelenken aufweisen wie ihre männlichen Kollegen. Daher könnte diese Verteilung der tatsächlichen Verbreitung entsprechen.

Der wahrscheinlichste Grund dafür sind hormonelle Unterschiede.

Wie der Zyklus die Verletzungsanfälligkeit beeinflusst

Bouldern Tschinie
Ralph Stöhr
Kletterinnen sind öfter von Handgelenks- und Knöchelverletzungen geplagt als ihre männlichen Kollegen.

Der weibliche Zyklus bringt mit sich, dass während der letzten 2 bis 4 Tage der Follikelphase (um den Eisprung) das verstärkt vorhandene Hormon Relaxin für deutlich weichere Bänder bei Frauen sorgen kann. Weichere Bänder bedeuten, dass Gelenke möglicherweise mehr Spiel aufweisen und dadurch größere Belastungsspitzen entstehen können, die Verletzungen begünstigen. Eine Untersuchung bei Fußballerinnen verortet 48 Prozent der Knieverletzungen in dieser Phase. Zwar unterscheidet sich Fußball stark vom Klettern, allerdings lässt sich die Erkenntnis durchaus übertragen, da auch beim Klettern hohe Belastungen auf den Bandapparat wirken, sei es beim Abspringen von Bouldern, wilden Dropknee-Bewegungen oder bei schweren Zügen an kleinen Griffen. Daher sollten Kletterinnen um ihren Eisprung herum besondere Vorsicht walten lassen, da Muskel- und Sehnenverletzungen in dieser Zeit doppelt so oft passieren wie in der frühen Follikel- oder der Lutealphase.

Allgemein verletzten sich die Kletterer am häufigsten, die sich zwischen dem Anfänger- und dem Fortgeschrittenenlevel befinden. 61 Prozent dieser Personen im mittleren Leistungslevel berichteten über eine Verletzung innerhalb der letzten sechs Monate. Obwohl schwerer kletternde Personen vermutlich höhere Belastungen auf Muskeln, Sehnen und Bänder aushalten, sind weniger erfahrene Kletterer vermutlich weniger an hohe Beanspruchungen gewöhnt und daher eher anfällig. Für alle, die auf schnelle Fortschritte hoffen, sollte dies eine Warnung sein.

Soll ich zum Arzt gehen?

Fazit ist, dass Verletzungsvermeidung allgemein die gleichen Ratschläge umfasst wie die bereits für Fingerverletzungen genannten. Langsamer Fortschritt ist gesünder, trainiere also nicht mehr als dein Körper verkraften kann. Gelenk- und Bandstrukturen passen sich langsamer an als Muskeln, gib ihnen Zeit. Daher ist es sinnvoll, den Fokus zur Verbesserung beim Klettern besser auf überlegene Technik zu legen als auf schnellen Kraftgewinn. Der letzte Tipp: Wenn du dich fragst, ob du medizinischen Rat brauchst, besteht kein Zweifel! Tu es.

Buch Kletterverletzungen von Gudmund Groenhaug
Verlag
Gudmund Groenhaug (49) lebt im Süden Norwegens und klettert seit 26 Jahren. Er hat rund 100 Routen bis 8c eingerichtet und erstbegangen. Seine Doktorarbeit zu Überlastungsschäden bei Kletterern versammelt unter anderem sechs eigene Veröffentlichungen zum Thema. Abgebildet ist sein Buch zur Verletzungsvermeidung für Kletterer (norwegisch). Instagram: @dr.g_climbing

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Erscheinungsdatum 12.09.2023