
Am frühen Morgen steht die Sonne noch niedrig über der Bucht am Kap Arkona, aber Harald, der alte Fischer, sitzt schon lange vor seinem Boot. Wie an jedem Tag hockt er auf einem Stuhl vor seiner »Jana«, wie immer mit einer Zigarette zwischen den Fingern. So wie Harald stellt man sich den letzten Fischer des Dorfes Vitt vor: Wetter und salzgeschwängerter Wind haben sein Gesicht hart gemacht, in der Brusttasche des Blaumanns steckt ein Beutel »Nelson«, starker Tabak. Nur noch drei Fischer fahren hinaus, früher waren es Dutzende. Der alte Harald und die Bredows sind noch übrig, Vater Peter und sein Sohn Tobias. Es ist nicht leicht, am Netz sein Geld zu verdienen.
Mit einem Brummen höchstens begrüßt Harald Wanderer, die auf Rügens Küstenstreckentour bei ihm am Kap Arkona landen, nachdem sie vor vier Tagen in Binz losgegangen sind, meist am Meer entlang und natürlich auch zu den berühmten Kreidefelsen. Er redet nicht viel, denn kein Seemann redet viel. Bis nach Indonesien ist er früher gefahren, bis Australien, unterwegs auf großen Frachtern, bevor er auf den Kutter ging. Einen Untergang überlebte er vor Norwegen, einen furchtbaren Sturm auf den »Grand Banks« vor Neufundland. Auch die Ostsee, die heute Morgen ruhig schimmert wie eine große Pfütze, kann zornig werden, vor allem vor Deutschlands nördlichstem Kap. Vielleicht fährt er nachher noch einmal raus, überlegt der alte Fischer, geht auf Aal oder auch Dorsch, den er hinterher dann in seine Räucherkammer schiebt.

Doch im Moment genießt Harald die Ruhe, eine Ruhe vor dem Ansturm. Nicht mehr lange, dann schlendern Touristen zwischen den Häusern hindurch, in Scharen, denn Vitt, das kleine Dorf, auf dessen Dächern Reet liegt, ist ein beliebtes Fotomotiv. »Kaum sind die Touristen hier, sind sie schon weg, mit einem Affenzahn«, schimpft er und kramt nach dem »Nelson«. »Die haben es immer so eilig«, murmelt er, und das Wort »eilig« klingt aus seinem Mund wie etwas besonders Unappetitliches. Hektik. Unruhe. Hetzen.
Womit Fischer Harald eine wichtige Maxime ausgibt für eine Wanderung auf Deutschlands größter Insel: Man soll Zeit mitbringen. Zeit für zufällige Begegnungen, für einen kurzen Plausch und um die kleinen Dinge auf sich wirken zu lassen. Denn selbst in der Hochsaison, wenn die Urlauber in langen Autokarawanen von Stralsund hinüberrollen, gelingt es problemlos, Abgeschiedenheit zu finden. 70 Kilometer lang ist die Küstenstreckentour, die sich, mit Wegweisern und blauem Balken markiert, an der Ostküste entlangschlängelt. Diese 70 Kilometer bieten alles, was die Insel einzigartig macht.

Rügen ist eine 926 Quadratkilometer große Wundertüte mit Buchten, dichten Buchenwäldern, spektakulären Klippen, Kaps und Bodden – von Landzungen abgetrennten Wasserflächen mit Verbindung zum Meer. Wie dicht sich hier Extreme beieinander finden, zeigt schon der Beginn der Wanderung in Binz, der weißen Strandperle. Die Villen am Ostseeufer, Promenade und Seebrücke liegen nur wenige hundert Strandmeter zurück, als schon die graue Fassade von Prora in Sicht kommt. Viereinhalb Kilometer misst das längste Gebäude Europas, von den Nationalsozialisten als Anlage für gleichgeschaltete Ferien der Organisation »Kraft durch Freude« geplant. Ein Mahnmal von monströser Hässlichkeit – und damit der exakte Gegenentwurf zum lieblichen Seebad Binz.
Mehrere Museen beherbergt der Koloss, und ein Abstecher lohnt besonders in die KulturKunststatt, ein Museum auf 5000 Quadratmetern und fünf Stockwerken. Am besten schlendert man mit einem Mitarbeiter wie Thomas Wolff, einem ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee, durch die Räume. Wolff, 48, leitete früher das Kommando eines kleinen Hafens an der Ostsee. Er erzählt, welchen Ärger er mit seinen Vorgesetzten bekam, als er einmal vergaß, die Paddel aus einem Schlauchboot zu nehmen – das in der Grenzschützer-Logik als Fluchtvehikel nach Schweden hätte dienen können. Ein Stockwerk ist wie eine Kaserne der DDR-Streitkräfte eingerichtet, und wenn man Aufnahmen von einem Manöver des Warschauer Paktes sieht und den Raum besichtigt, in dem Panzerbesatzungen genaues Schießen trainieren konnten, lässt einen die aufkeimende Beklemmung zügig weiterwandern.
Im Nationalpark Jasmund






In der »Piratenschlucht« soll der sagenhafte Seeräuber Klaus Störtebeker angeblich ein Versteck gehabt haben. Ob das so stimmt oder ob die Legende frei erfunden ist? Vom Zweitwohnsitz des Piraten ist es nicht mehr weit bis zur Stelle, an der einst die »Wissower Klinken« aufragten, die früher eines der Wahrzeichen der Insel waren. Bis 2005, um genau zu sein, denn dann rutschten die 20 Meter hohen Kreidefelsen mit viel Getöse in die Ostsee.
Die Natur zeigt sich hier von ihrer besten Seite, so schön, als wandele man durch ein kitschiges Ölgemälde. Willkommen im Caspar-David-Friedrich-Land! Die Buchenwälder rauschen, das Meer liegt einem zu Füßen, und der Blick auf Küstenlinie und See stimmt beinahe andächtig. Wie der berühmte »Königsstuhl« seinen Namen erhielt, bleibt ein Rätsel: Ob der schwedische König Carl XIII. tatsächlich eine Seeschlacht auf einem bereitgestellten Stuhl beobachtete? Oder ob dort derjenige zum König gewählt wurde, der die Felswände als Schnellster emporkletterte? Der Anblick ist jedenfalls wahrhaft majestätisch. »Das Meer arbeitet an der Küste, verändert und modelliert die Landschaft«, sagt Matzi Müller, 54, ein Bildhauer, der sich vor einigen Jahren auf Rügen niederließ, weil ihn der Zauber der Insel nicht mehr losließ.

Tatsächlich erlebt man auf dieser Etappe eine landschaftliche Vielfalt, die ungewöhnlich ist für eine Insel. Ob man vom Schlanteberg nahe des Dorfes Glowe rundum schaut oder vom Tempelberg – mit einem fantastischen Weitblick bis auf den Großen Jasmunder Bodden –, dieses Stück Land im Meer fühlt sich nicht an wie eine Insel. Mal führt der Weg über Hügel, wenig später ist die Landschaft flach wie ein holländischer Pfannekuchen, dann wandert man beim roten Spyker Schloss zwischen dem Spykerschen See und dem Mittelsee durch weite Schilfflächen, ein kleines Paradies für Seevögel.
Und genauso abwechslungsreich geht es weiter: Der schmale Streifen »Schaabe« hinter dem Badeort Glowe empfängt einen mit Sumpf und Moor. Der Wald aus Kiefern und Rotbuchen steht dicht und dunkel. Am Ufer des Boddens surren große Libellen, das Schilf rauscht im Wind, man rastet in kleinen Strandbuchten, hält die Füße ins Wasser, und weil niemand sonst hier geht, stellt sich ein Gefühl tiefer Ruhe ein. Was für ein schönes Stück Wanderweg! Wäre man nicht so neugierig, was einen hinter der nächsten Kurve erwartet – man wäre geneigt, umzukehren und dieselbe Route zurück zu nehmen.
Weiter nach Norden

Doch die Küstenstrecke führt weiter nach Norden, am Ostseeufer entlang, und es dauert nicht mehr lange, bis die Felsen und die Leuchttürme von Kap Arkona in Sicht kommen. Mit der Einsamkeit ist es in diesem Teil der Insel angesichts fast einer Million Besucher jährlich vorbei. Deshalb empfiehlt es sich, früh am Morgen aufzubrechen. Am besten so früh, dass man noch beobachten kann, wie der größere Leuchtturm, gebaut aus Ziegelsteinen, sein Feuer über die Ostsee schickt.
Kaum einen Kilometer hinter den Leuchttürmen erreicht man den nördlichsten Punkt Rügens und das Endziel der Route: den Strand Gellort. Am Fuße der Klippe liegt ein gewaltiger Findling, der Siebenschneiderstein, und oben auf einem Plateau wacht ein Adler aus Holz. Er steht auf einem Pfahl, wie auf einem Indianertotem, hat die Flügel leicht hochgezogen und den Kopf gesenkt, stolz und in sich gekehrt. Geschlagen hat den Raubvogel der Künstler Müller, ein breitschultriger Mann mit Lockenmatte, der selber ein bisschen aussieht wie ein Indianerhäuptling. In seinem kleinen Atelier »Donnerkeil« verkauft er Schmuck, vor allem Ketten und Anhänger. »Mir kam die Idee zur Adlerstatue, weil man im Herbst und Winter am Gellort Seeadler beobachten kann«, erklärt er.
Wenn ein Sturm über das Kap gezogen ist, macht sich Müller unten an den Klippen auf die Suche nach Bernstein. »Sammler von der Insel wissen, wo und wann sie suchen müssen«, sagt er, »die hören den richtigen Moment, wenn der Wind dreht.« Darum ist er auf die Insel gezogen: Wegen der Energie, die entsteht, wenn das Meer auf Land trifft, wenn der Sturm tost und die Klippen zu zittern scheinen. Rügen ist mehr als eine Insel. Rügen ist ein Sehnsuchtsland.
Küstentour





Von Binz nach Sassnitz

18 km, 4,5–5 h
Von Binz am Strand entlang nach Prora, danach auf dem Radwanderweg durch ein Naturschutzgebiet und Wald nach Lietzow. Mit dem Zug weiter nach Sassnitz.
Von Sassnitz nach Lohme

13 km, 3–3,5 h
Über die Promenade nach Norden und über den Hochuferweg (blauer Balken) durch den Nationalpark Jasmund. Am Wasserfall Kieler Bach vorbei zum Königsstuhl. Durch Buchenwälder nach Lohme. Alternativ: ab der Promenade am Strand entlang.
Von Lohme nach Glowe

18 km, 4,5–5 h
Kleine Schleife von der Küste weg über die Dörfer Quoltitz, Neddesitz und Bobbin. Hier lohnt eine Einkehr im Schlosshotel Spyker. Über Felder nach Glowe am Meer.
Von Glowe ans Kap Arkona

21 km, 5,5 h
Auf dem Europäischen Fernwanderweg (blauer Balken) durch Wälder, Moore und über Strände nach Juliusruh, weiter nach Altenkirchen und ins Fischerdorf Vitt. Entweder über den Strand oder auf dem Hochuferweg nach Kap Arkona.

Auf Deutschlands größter Insel






Beste Zeit
Mai bis September für die Wanderung. Rügen ist ein Ganzjahresziel, wenn man den herben Charme stürmischen Wetters mag.
Charakter
Abwechslungsreiche Wanderung über vier Tage an Rügens Ostküste entlang bis zum nördlichsten Punkt der Insel, dem Kap Arkona. Sie führt nicht nur zu den berühmten Kreidefelsen, sondern auch zu versteckten Buchten, durch alte Wälder und Moore. Längste Etappe: 21 km. Die Höhenmeter halten sich sehr in Grenzen; schließlich ist der höchste Punkt der Insel der 118 Meter niedrige Königsstuhl.
Anfahrt
Mit dem Auto ab Lübeck auf der A 20 bis Abfahrt Stralsund, dann über B 96 auf die Insel Rügen. Aus Berlin über A 24 und A 19 bis Dreieck Wittstock oder A 11 (von Osten) bis Kreuz Uckermark, dann über A 20 weiter. Per Fähre: A 20, Abfahrt Miltzow, weiter nach Stahlbrode und per Autofähre nach Rügen. Die Deutsche Bahn fährt von allen großen Städten aus nach Bergen auf Rügen.
Einkehren
Fantastischer Kuchen bei entspannter Lounge-Atmosphäre in einem 760 Jahre alten Schloss am Spyker See im Naturschutzgebiet Jasmunder Bodden: www.schloss-spyker.de
Übernachten
Aquamaris Strandresidenz Rügen: Vier-Sterne-Residenz mit eigenem Strand und Kiefernwäldchen. Für die Wanderung entlang der Küste ideal gelegen, www.aquamaris.de
Buch/Karte
Rügen, Rolf Goetz, Bergverlag Rother, 12,90 Euro; Grünes Herz Verlag, Karten-Set Rügen, 19,95 Euro.
Info
Tourismuszentrale Rügen, Bahnhofstraße 15, 18528 Bergen auf Rügen, Tel. 03838/8077-0, www.ruegen.de; Infos zu Rügens schönster Ecke: www.national park-jasmund.de
outdoor-Tipp
Störtebeker live erleben: Vom 18. Juni bis 3. September 2011 führen 150 Mitwirkende das große Störtebeker-Schauspiel in Ralswiek auf, dieses Jahr »Der Schatz der Templer«. Info: www.stoertebeker.de, Tel. 03838/31100.
Nicht schön, aber wichtig: die Museumsmeile (fünf Museen) im früheren Nazibau Prora. www.kulturkunststatt.de